Veröffentlicht: 13.12.2021. Rubrik: Menschliches
Herr Winkelmann grüßt seine Kollegin nicht mehr…
Eines Tages grüßte Herr Winkelmann seine Kollegin nicht mehr.
Und sie fragte sich warum. War er böse mit ihr? Sie sah keinen Grund dafür. Im Gegenteil, tagein, tagaus saßen sie sich an ihren Schreibtischen gegenüber und man kann sagen, sie mochten sich. Im Laufe der Jahre war so etwas wie Freundschaft entstanden.
Herr Winkelmann war ein alter Hase in der Reklamationsabteilung, sehr geschickt im Umgang mit Kunden, die mit den doppelt verglasten Fensterscheiben, die die Firma geliefert und eingebaut hatte, nicht zufrieden waren. Katharina Obermeier war in die Reklamationsabteilung gekommen, als sie im dritten Ausbildungsjahr war. Als sie die Kaufmannsgehilfenprüfung mit Bravour bestanden hatte, blieb sie als Sachbearbeiterin in der Abteilung und Herr Winkelmann brachte ihr alle Kniffe bei, wie man mit unzufriedenen, aber auch zufriedenen Kunden umzugehen habe. Herr Winkelmann kümmerte sich rührend um sie, gab ihr viele Tipps und schrieb ihre zunehmend erfolgreiche Arbeit seiner phantastischen Einarbeitung zu.
Er sagte ihr oft, wie tüchtig sie sei. Er sagte es nicht nur ihr, sondern auch anderen Kolleginnen und Kollegen. Manchmal war es Katharina peinlich, so enthusiastisch gelobt zu werden, vor allen Dingen, wenn junge Leute ihres Ausbildungsjahrgangs es hörten. Und noch etwas war ihr peinlich: Herr Winkelmann vergaß bei seinen Lobeshymnen nie zu erwähnen, dass er ihr das nötige Know-how beigebracht habe.
Da sie aber wusste, dass er sie mochte und sich über ihren Erfolg freute, konnte sie ihm nicht wirklich böse sein. Und so saßen sie sich tagaus, tagein an ihren Schreibtischen gegenüber.
Die Jahre vergingen. Katharina war längst nicht mehr die unerfahrene junge Sachbearbeiterin, die auf das Know-how des Herrn Winkelmann angewiesen war.
Sie behandelte Reklamationen der Kunden sehr diplomatisch, kam ihnen entgegen, soweit sie dazu befugt war, konnte aber unberechtigte Forderungen mit einer netten und charmanten Begründung ablehnen.
Die Reklamationsabteilung gehörte zum Vorstandsbereich Verkauf und Export. Herr Schneider, der oberste Boss in diesem Bereich, kannte Katharina nicht, hatte aber von seinem persönlichen Assistenten gehört, dass in der Reklamationsabteilung eine tüchtige junge Frau arbeite. Der wiederum hatte es von Herrn Winkelmann erfahren, als er mit diesem in der Kantine zu Mittag aß.
Herr Schneider dachte angestrengt nach: Der Leiter der Reklamationsabteilung würde in drei Monaten in den Ruhestand verabschiedet. Der natürliche Nachfolger auf diese besser bezahlte Stelle wäre Herr Winkelmann, der dienstälteste Sachbearbeiter dort. Aber Herr Winkelmann war schon 55 Jahre alt. Warum sollte man diese Stelle nicht der weitaus jüngeren Frau Obermeier anbieten? Er nahm sich vor, zuerst mit Herrn Winkelmann darüber zu reden. Er glaubte fest daran, dass Herr Winkelmann seinem Schützling diese Beförderung gönnen würde. Schließlich war man nur durch seine begeisterten Offenbarungen auf die junge Frau aufmerksam geworden.
Am nächsten Morgen ließ Herr Schneider Herrn Winkelmann zu sich kommen. Dieser meinte zu wissen warum: Die Stelle des Abteilungsleiters musste in drei Monaten neu besetzt werden. Herr Winkelmann fühlte sich berufen und lächelte still in sich hinein. Doch als Herr Schneider ihm seinen Plan eröffnete, diese Stelle mit Katharina Obermeier zu besetzen und er, Winkelmann, dafür sorgen solle, dass Katharina sich auf die demnächst aushängende Stellenausschreibung bewarb, fiel seine Kinnlade abrupt herunter. Das konnte nicht wahr sein! Er war es doch, der Katharina alles beigebracht hatte. Sie kam als Auszubildende in die Abteilung. Was wäre bloß ohne ihn aus dem unerfahrenen Mädel geworden? Und zukünftig sollte sie mehr verdienen als er, ihr Lehrmeister? Er stellte sich vor, wie seine Frau ihm in den Ohren liegen würde, hatten sie doch beide fest damit gerechnet, dass er Abteilungsleiter würde. Auch das Geld, das er mehr verdienen würde, hatten sie schon eingeplant.
Aus Frust ging er nach Hause und entschuldigte sich mit migräneartigen Kopfschmerzen. Die bekam er dann tatsächlich, als seine Frau ohne Punkt und Komma lamentierte, er könne sich nicht durchsetzen. Und ununterbrochen über das Geld, das nun fehlen würde, jammerte.
Nach einer fast schlaflos verbrachten Nacht ging er am nächsten Morgen ins Büro. An diesem Tag grüßte Herr Winkelmann seine Kollegin nicht mehr....