Veröffentlicht: 18.04.2025. Rubrik: Aktionen
Ein Märchen, an Ostern vorzulesen
„Ei,“ sagte die Henne und noch mal „Ei“. Denn sie hatte grade eins gelegt und sie war nicht von der gesprächigen Art, die solch ein Ergebnis gewaltig bekakeln.
Sie betrachtete ihr Produkt: Schneeweiß lag es da und von vollkommener Form, Rotationssymmetrie vom Feinsten. Wäre die Henne mathematisch gebildet gewesen, sie hätte gewiss eine Formel ersonnen, irgendwas mit Tangens und Hyperbolicus. Aber das war sie nicht. Sie dachte schlicht: „So ein perfektes Ei wird ein perfektes Kücken“, rollte das Ei vorsichtig in eine bequeme Ecke des Nests und begann sofort zu brüten.
Nun war es aber grade Ostersamstag und pünktlich um sieben Uhr dreißig kam ein Hase um die Ecke, denn sieben Uhr dreißig war sein Arbeitsbeginn. („Eigentlich zu früh“, dachte der Hase manchmal, aber er war nicht in der Gewerkschaft und von Haus aus unpolitisch, jedoch loyal in seinem Job.)
Sein Job war es, Ostereier zu requirieren, perfekte weiße Eier, die dann, bunt gefärbt, Freude ins morgige Fest bringen sollten. Eier sammeln, Eiere malen, das ist Osterhasenroutine. Der Hase pflegte das klassische Ringelmuster zu malen Bunte Spiralen um das Ei herum. Ei mit einer Pfote an beiden Spitzen halten, Pinsel ansetzen, Ei drehen und fertig. Ging fix und war effektvoll. (Dem Hasen lag viel an einem pünktlichen Feierabend.)
„Moin Henne“ sagte der Hase, „ heute schon was gelegt?“ „Klar doch“. Die Henne strotzte vor Selbstbewusstsein, „willst du mal sehen?“ Sie hob ganz leicht den rechten Hühnerschenkel und das makellose Weiß blitzte hervor. „Sofort her damit“ befahl der Hase, „dieses Ei wird so was von Osterei“.
„Ist nicht“ sagte die Henne und ließ das Gefieder wieder sinken, „ich brüte“. Der Hase ließ enttäuscht die Löffel sinken „Ach liebe Henne, das kannst du doch nicht machen. Ich muss doch liefern. Die Zahl zu malender Eier steht im Arbeitsvertrag“.
„Gooktocktock“, gluckste die Henne, was bedeutete, dass sie nachdachte, denn sie war bedächtig, aber überaus praktisch veranlagt. Schließlich sagte sie „Dann mal es doch an. Du nimmst den Pinsel und ich drehe das Ei, dann gibt es die perfekte Spirale.“ Und so machten sie es. Die Henne nahm das Ei schnell wieder unter ihre wärmenden Fittiche. Der Hase machte einen Strich auf seiner Liste „Eier,gemalt“ und hoppelte frohgemut zum nächsten Stall.
Du glaubst, ein paar winzige Farbspritzer im Stroh des Hühnernestes haben mir diese Geschichte erzählt? Falsch geraten, nein! Drei Wochen nach Ostern ist auf unserem Hof ein Kücken geschlüpft, das hatte auf seinem flaumigen Federkleid eine bunte Spirale vom Köpfchen bis zum Schwanz.

