Veröffentlicht: 18.04.2025. Rubrik: Menschliches
Vom Lauf der Zeit
Wenn das Herzchen traurig war, oder das Knie mal wieder blutig, dann durfte das kleine Mädchen auf Papas Schoss sitzen und an der Armbanduhr lauschen: „ticke ticke ticke ticke“ – ganz leise und regelmäßig tönte es aus dem Gehäuse der alten Dugena, das bedeutete: „alles in Ordnung, alles wird gut.“ Und der Sekundenzeiger hatte einen roten Punkt am Ende, der unermüdlich im Rhythmus des Uhrwerks. das Zifferblatt umrundete. So wie die Erde das mit der Sonne macht. Dann gab es ein Küsschen vom Papa und das kleine Mädchen sprang getröstet davon.
Als der Papa von ihr ging, war sie längst eine erwachsene Frau. Die alte Armbanduhr landete wenig beachtet in irgendeinem Karton, den sie mitnahm in ihre neue Heimat. Erst dreißig Jahre später fand sie die Uhr beim Aufräumen. Vorsichtig fasste sie die Krone und begann behutsam das Uhrwerk aufzuziehen. Sie hielt die Uhr an ihr rechtes Ohr, dann fast ungläubig ans ihr linkes, „ticke ticke ticke ticke“ – die Unruh hatte ihre Arbeit wieder aufgenommen. Die Frau dachte plötzlich an das kleine Mädchen auf Papas Schoß und führte das Zifferblatt mit dem roten Sekundenzeiger spontan an ihre Lippen.
Die Uhr liegt jetzt auf ihrem Nachttisch und wird jeden Morgen ein wenig aufgezogen, damit ihr lebendiges Ticken nicht aufhört. Rechts Ohr, linkes Ohr – die alte Frau kann es immer noch gut hören. „Danke Papa“ denkt sie und gibt der Uhr ein Küsschen.

