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geschrieben 2015 von Ofelia (Ofelia).
Veröffentlicht: 12.04.2025. Rubrik: Kürzestgeschichten


MARLEN

(oder die Konjugation des Verbes Das Schicksal)
Für Marlén
“Jemand auf dieser Welt denkt noch immer an dich.”
(Jemand) 


Marlén kam zum ersten Mal an einem Sonntagsnachmittag zu uns nach Hause, und wenn meine Mutter ein wenig auf ihre Augen geachtet hätte, wäre ihr aufgefallen, dass sie versuchte, ihrem Schicksal zu entkommen. Aber sie tat es natürlich nicht, weil sie ganz andere Sorgen hatte, die ständigen irdischen Sorgen, die sie während ihres gesamten Lebens als verheiratete Frau mindestens sechzehn Stunden am Tag belasteten, vom Moment ihres Aufstehens bis sie erschöpft, aber nicht besiegt, ihren Kopf auf das Kissen legte und innerhalb kürzester Zeit einschlief. 

Jetzt wünschte ich mir, dass wir, das heißt meine Geschwister und ich, unsererseits weniger einfältig gewesen wären, denn dann hätten wir zumindest vorhersehen können, dass das Schicksal Marlén irgendwie fangen würde. Ja, jeder gesunde Mensch hätte das vorhergesehen. Aber was niemand hätte vorhersagen können, war der Hinterhalt, in den das Schicksal sie locken würde.
Mein Verhalten war aus mindestens zwei Gründen mehr als verständlich, die ich jetzt, Jahrzehnte später, als Entschuldigung anführen kann. Erstens war ich ein gerade einmal vierzehnjähriges Mädchen, das das vierte Jahr der Mittelschule absolvierte und unter der Leitung der Nonnen der Darstellung Mariens damit beschäftigt war, die Kunst des kleinbürgerlichen Lebens zu perfektionieren und dieses mit Leere zu füllen. Zweitens kannte ich in diesem Alter nicht einmal die Bedeutung des Wortes ‘Los’, geschweige denn, dass ich wusste, dass es ein Synonym für Schicksal und Vorsehung ist, und noch schlimmer für Fatum, das, wie ich schließlich Jahre später erfuhr, laut Wörterbüchern so viel wie eine Verkettung unvermeidbarer Ereignisse mit einem sehr verhängnisvollen Ausgang bedeutet. Ja, ich gebe zu, dass ich Marlénes Augen keinerlei Beachtung geschenkt habe, aber ich habe trotzdem nicht vergessen, was ich trotz meiner Nachlässigkeit in ihnen spürte, und dass ich in meiner Naivität oder besser gesagt Unwissenheit mit einem Gefühl verwechselte, das nach einer langen Reise durch Müdigkeit gestärkt worden sein könnte: Angst.

Marlén muss damals ungefähr siebzehn Jahre alt gewesen sein. Sie war weder hässlich, noch schön, weder groß noch klein, dick noch dünn. Ihre Augen waren hellgrün, sie hatte ein rundes Gesicht, weiße Haut und war gut gebaut. Das Haar, glatt wie das der Indios, aber hellbraun statt schwarz, reichte bis zu ihren Ohren, und ihr Lächeln entblößte perfekte Zähne. Und ja, ohne Zweifel war ihre Seele sicher schon übel zugerichtet, verbrannt und zerkratzt und sowohl innerlich als auch äußerlich voller Schrammen, und ihre Welt und ihr Leben festgefahren und auf dem Kopf stehend. Das alles wusste sie natürlich nicht, aber fühlte es unzweifelhaft.
Inzwischen sind einige Jahrzehnte vergangen, mindestens fünf, und ich glaube nicht, dass weder meine Eltern noch meine Geschwister überhaupt an sie denken. Schließlich reichen fünf Jahrzehnte aus das Gedächtnis zu untergraben, seine Genauigkeit zu mindern und Erinnerungen verblassen zu lassen, insbesondere die weniger angenehmen. Dennoch kann ich mich mit absoluter Sicherheit an einige Fakten erinnern, so daran, dass sie an einem Sonntag ankam, denn es war der Tag, an dem die Züge aus der Provinz am Hauptbahnhof eintrafen. Die Züge waren voller Mädchen, die aus den entlegensten Gegenden kamen und in der Zuversicht reisten, in der Hauptstadt das zu finden, was sie in ihren Dörfern nicht fanden: eine Arbeit, eine Zukunft, die Liebe oder zumindest eine Liebe. Und ich erinnere mich auch an das genaue Datum, es war der 3. Juni 1962. An diesem Tag, am selben denkwürdigen Tag, erzielte Marcos Coll, ein Fußballer aus meinem Land, das einzige sogenannte Gol olímpico in der gesamten Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaft.  Und obwohl ich die Bedeutung und vielleicht sogar die Existenz des Wortes Schicksal nicht kannte, wusste ich, was olympisches Tor bedeutete. Ich verstand natürlich die ungeheure Freude, mit der meine Landsleute diese Heldentat, ein wahres Kunststück, feierten. Und das nicht nur, weil sie eine nicht zu übertreffende und unübertroffene Tatsache war und noch immer ist, sondern vor allem, weil der Torhüter der Gegner, der besiegte Torhüter, damals als der beste Torhüter der Welt galt, der Russe Lew Jaschin, dessen Spitzname aus einem bestimmten Grund Schwarzer Panther war.

Marlénes Lebenspfad hätte niemals die breite Allee von uns gekreuzt, wenn sie nicht eine Nichte meines Vaters am Bahnhof getroffen hätte und wenn diese sie aus Gründen, die sie bei ihrer Ankunft eiligst zu erklären versuchte, nicht in unser Haus gebracht hätte. Besagte Nichte, an deren Namen ich mich noch sehr gut erinnere, meiner Meinung nach jedoch hier keinerlei Bedeutung hat, war die am wenigsten geeignete Person, um meine Mutter um einen Gefallen zu bitten. Zwischen ihnen bestand nämlich eine tiefsitzende Feindschaft, aus Gründen, die hier ebenfalls unbedeutend sind, jedoch viel zu oft die zerbrechliche Harmonie zwischen meinen Eltern störten. Aber an diesem Tag blieb dieser Nichte keine andere Wahl. Möglicherweise war es die Nähe zu unserem Haus, das etwa vier Blöcke vom Bahnhof entfernt lag, was sie wirklich dazu veranlasste, sich an meine Mutter zu wenden und zweifellos deren unbegründeten Stolz verletzte. Nach dem obligatorischen Begrüßungsritual erzählte die Nichte meiner Mutter, dass sie dieses Mädchen angesprochen hatte, nachdem sie aus dem Zug gestiegen war. Sie hatte sofort einen guten Eindruck aufgrund ihrer ordentlichen und bescheidenen Kleidung, sowie ihres gepflegten Aussehens auf sie gemacht. Schließlich hätten sie sich darauf geeinigt, dass sie bei ihrer ältesten Tochter als Dienstmädchen arbeiten könnte. Das Problem, das entstanden war und weshalb sie gezwungen war, sie zu uns nach Hause zu bringen bestand darin, dass die Tochter noch eine Angestellte im Haus hatte, deren Beschäftigung erst in zwei Wochen enden würde. Für diese Zeit musste also eine Unterkunft für dieses Mädel gefunden werden. Mädel war das Wort, das sie für Marlén benutzte. Ich weiß nicht, ob sie es tat, weil sie sich nicht die Mühe gemacht hatte, nach ihrem Namen zu fragen oder um ihr einen Teil ihrer Identität zu entziehen, das Mädchen die Verachtung erfahren zu lassen, die sie für Menschen in ihrem Zustand empfand. In den folgenden Jahren hatte ich die Gelegenheit, die Nichte meines Vaters besser kennenzulernen, und so neige ich zur zweiten Erklärung, auf die Gefahr hin, ungerecht zu sein, so wie ich zweifellos vielen anderen Menschen in meinen Urteilen Unrecht angetan habe. Vielleicht kann sie zwei Wochen bei euch bleiben, Rosalba?
 
Der schmale Pfad, dem Marlénes Schicksal folgte, hätte die Sonnenallee, auf der unseres verlief, nicht gekreuzt, wenn jemand ihr erzählt oder vielmehr sie gewarnt hätte, dass unsere Leben, das Leben aller Menschen ohne Ausnahme, wenn auch in unterschiedlichem Maße, vorbestimmt sind, von Kräften beherrscht, die manchmal aufbauender Natur, aber letztendlich viel zerstörerischer sind und uns praktisch zu einfachen Attributen eines Marionettentheaters machen, zu Würfeln in Händen allmächtiger und allgegenwärtiger Spieler oder zu Gegenständen, die unweigerlich ihrer Barmherzigkeit ausgeliefert bleiben, um es so zu nennen. 

Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was in diesen Augenblicken durch den Kopf meiner Mutter ging, aber sie stimmte ohne zu zögern zu. Sie tat es wahrscheinlich, weil sie gerade in jenen Tagen, als Folge eines unangenehmen Vorfalls, der nie mit uns besprochen wurde, kein Dienstmädchen mehr im Haus hatte und zweifellos ein wenig Hilfe willkommen war, zumindest in der Küche, wo sie sich Tag für Tag abplagte, ihren Mann, ihre sieben Blutsauger und einige der Tischgäste, denen unsere Eltern von uns nicht genutzte Zimmer vermieteten, zu bewirten. Sobald die Köchin meiner Tochter geht, werde ich zurückkommen, um das Mädel abzuholen, versprach die Nichte, woraufhin sie sich mit den unvermeidlichen Höflichkeiten verabschiedete.

Genau zwei Wochen später erschien die Nichte, wie vereinbart, diesmal in einem Taxi, um ihr Versprechen in die Tat umzusetzen. Das Taxi wartet auf mich und ich habe es eilig, Rosalba, rufst du das Mädchen? Heute bin ich überzeugt, dass es nichts weiter als ein Trick war, die Dauer der Begegnung oder Konfrontation mit meiner Mutter kurz zu halten. Obwohl sie unter allen Umständen so tat, als wäre sie allen anderen überlegen, war es offensichtlich, dass sie meine Mutter fürchtete, die, obwohl sie nicht auf die Unterstützung meines Vaters zählen konnte, ihre Angriffe standhaft zurückwies und ihr dabei zeigte, dass die Überlegenheit, die sie sich selbst zuschrieb, nur das Produkt ihrer Kleinlichkeit war, eines Bedürfnisses von Menschen, die sich tatsächlich minderwertig fühlen.

Weder sie noch meine Mutter hatten mit der Überraschung gerechnet, die Marlén für sie bereithielt. Die zweite, entschlossen, ihr Versprechen zu halten, rief Marlén bei der Haustür beim Namen und als sie keine Antwort erhielt, befahl sie mir, in ihr Zimmer zu gehen und sie zu bitten, sich zu beeilen, weil man auf sie wartete. Marlénes Zimmer befand sich im hinteren Innenhof des Hauses, und als ich dort ankam, stand die Tür halb offen. Mir blieb keine Zeit, irgendetwas zu sagen. Marlén saß regungslos auf der Bettkante neben ihrem einzigen und kleinen Koffer. Sobald sie mich sah, bedeckte sie ihre Augen mit einem Taschentuch und versuchte vor mir zu verbergen, dass sie weinte. Von der Zimmertür aus rief ich meine Mutter und als sie kam und sie sah, weinte Marlén noch immer, aber verbarg ihre Tränen nicht mehr. Lass uns allein, befahl mir meine Mutter und ich gehorchte.

Es dauerte nicht lange, bis sie zur Tür zurückkehrten, wo die Nichte auf sie wartete. Ich bemerkte, dass Marlén, die hinter meiner Mutter lief, als ob sie sich versteckte, ihren Koffer nicht dabei hatte. Noch bevor die Nichte ein Wort sagen konnte, ließ meine Mutter sie wissen, dass Marlén ihr etwas mitzuteilen hatte. Marlén wollte, dass sie wusste, dass sie nicht mit ihr ginge, dass sie sich bei uns zu Hause fühlte und es aus diesem Grund vorzog, lieber bei uns zu bleiben.

(Fragmente aus: Marlén / Liebe ist niemand Schuld)
(Übersetzung: Elfje)

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Rautus Norvegicus am 13.04.2025:

Hola, Ofelia, wäre denn Elfje eine hübsche Holländerin für mich :-)?

Du perfektionierst deine schriftliche Ausdrucksform rasend schnell, ich bin verblüfft!

Viele Grüße

Rautus Norvegicus




geschrieben von Ofelia am 13.04.2025:

Nein, Rautus, ich habe nichts perfektioniert, das hat Elfje getan. Sie war damals meine Übersetzerin (ich habe selber in NL viele Jahre als Übersetzer und Dolmetscher gearbeitet), und sie war auch unglaublich hübsch. Hübscher als ich jedenfalls. Die schönste deutsche Frau die ich je gesehen habe.

Diese Geschichte habe ich schon lange her auf Spanisch geschrieben, und sie hat es übersetzt.
Ich werde noch viele Jahre Geduld haben sollen, bevor ich so gut deutsch schreibe kann wie du und die hübsche Elfje.
Ob sie für dich ist? Ich werde ihr Fragen, wenn du es willst. Aber, soviel ich weiß, hast du eine Frau un Kinder. Stimmt es?

Wofür willst du eine hübsche Freundin?

Schönen Tag,mO




geschrieben von Rautus Norvegicus am 13.04.2025:

Hallo Ofelia,

frag sie nicht. Es wäre doch sowieso sinnlos, aber eventuell wird sie schmunzeln, wenn ein ihr völlig fremder Mensch Interesse an ihr zeigt. Das wäre doch schön. Ich bin geschieden und habe eine Tochter. Die ist schon 30 und selber sehr schön, sieht so aus wie ihre Mutter, als ich die vor 31 Jahren kennen gelernt habe ;-)

Wofür ich eine hübsche Freundin will? Du beliebst zu scherzen, mein guter Ofelia, oder ist das eine rhetorische Frage? (Auf eine rhetorische Frage wird normalerweise eine Antwort nicht erwartet, aber das weißt du bestimmt von allein.)

Aber ich beantworte sie dir. Ich will eine hübsche Freundin, um sie an meiner Seite zu haben und stolz auf sie zu sein.

Mit vielen Grüßen,

Rautus Norvegicus




geschrieben von Ofelia am 13.04.2025:

Hallo, Rautus, Elfje ist wie gesagt keine Holländerin, sonder deutsch.
Ich fragte dich wozu du Interesse an Elfje hattest weil ich’s dachte du wärst geheiratet.
Ich werde, wie du schreibst, sie denn nichts fragen.
Um ehrlich zu sein, sie ist nicht die richtige Person für dich, denke ich. Du willst eine Frau auf deiner Seite und stolz auf sie sein.

Ich kenne sie schon lange, und ich kann dir zwei Dinge über sie erzählen:
Sie ist nicht nur hübsch, sonder auch unglaublich intelligent sehr Gelehrte. Sie spricht mindestens vier Sprachen. Also, um sehr stolz auf sie zu sein.

Aber sie bleibt nie bei einem Mann, sie will frei sein. Heutzutage ist sie fast 67.Das wird dir nicht gefallen.

O




geschrieben von Rautus Norvegicus am 13.04.2025:

Da bin ich Elfje wohl sowieso zu jung und unreif. Ich fühl mich, offen gesagt, noch zu vital, um meine Bedürfnisse ausschließlich auf intellektueller Basis befriedigen zu können.

Beste Grüße,

Rautus Norvegicus

PS. Selbstverständlich wäre ich auch sehr stolz auf die gebildete Elfje, wenn sie mir freundschaftlich zugeneigt wäre!

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