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geschrieben 2025 von Manolo.
Veröffentlicht: 01.03.2025. Rubrik: Menschliches


TANTE JULE MOMENTE

Ich komme aus einer Zeit, da gab es in der Bahn noch Abteile in denen die Sitze zusammengezogen werden konnten. So hatten wir als Kinder einen staubigen Sprungpark, auf metallenen Rädern. Unser Schulweg dauerte eine ganze Weile, wir fuhren sogar in ein anderes Bundesland. Wir saßen da, dem Wechsel der Jahreszeiten folgend, immer anders gekleidet. Eines blieb aber stets gleich: die Fahrkartenmäppchen die wir mit den entsprechenden Monatsmarken um den Hals trugen. Und es gab noch eine Konstante: Tante Jule. Ich weiß nicht mehr genau, wie wir das erste Mal auf sie trafen. Wir, dass war ein gemischter Haufen aus Fahrschülern, mehr als fünf und weniger als zehn, eine verschworene Gemeinschaft. Die ersten beiden Schuljahre wurden wir von einem Elternteil begleitet, dann wurde beschlossen, dass wir groß genug seien, auf uns selbst aufzupassen. Unsere Eltern setzten wahrscheinlich auf die Schwarmintelligenz und die Kraft der Gruppe, falls uns irgendwelche Gefahren begegnen sollten. Die Schaffner kannten uns und die Beamten der Bahnpolizei, die es damals noch gab. Einmal ermahnte uns eine Polizistin in ihrer grau-blauen Uniform, dass wir aufhören sollten, uns gegen die Süßigkeitenautomaten zu werfen, um feststeckenden Schokoriegeln habhaft zu werden. Unsere Augen entdeckten solche Möglichkeiten sofort. Und wir warteten einfach ab, bis die weißen Schirmmützen unter dem Treppenabsatz verschwunden waren. Warum schreibe ich das alles? – Pendeln gehört doch heute noch zur Alltagsroutine von vielen von uns, auch zu meiner, auch wenn das Auto den ausgesessenen Sitz im Zug ersetzt hat. Letzt kam die Frage auf, was ich mit Erlebnissen und Erfahrungen aus meiner Vergangenheit verbinde, die lange Zeit zurückliegen würden? Ich habe überlegt, ob ich über verflossene Lieben schreiben sollte, die schmerzvoll endeten, noch bevor sie begonnen hatten; oder über Beziehungen, die schön waren, aber endeten und mir das Rückgrat unter der Trauer fast brachen. Was aber das Bild zeichnen würde, dass Liebe immer mit Schmerz verbunden ist, dem ist ja zum Glück nicht so. Also schreibe ich über Momente des Glücks und der schönen Gefühle. Kommen wir also zurück zu mir, als ich die Pfennigstücke (für die jüngeren LeserInnen: so ähnlich, wie heute der Cent, beim Euro. Hieß nur früher D-Mark ;-), abzählte. Je mehr ich hatte, umso besser. Es gab spitzzulaufende Papiertütchen, in die die Kioskbesitzerin, mal mit einer Metallzange, mal mit bloßen Fingern, grüne Gummifrösche mit weißem Bauch oder Cola-Bonbons und saure Gurken, packte. Die anderen unserer Fahrgemeinschaft und ich standen an der Endhaltestelle der Straßenbahn, wo sich der Kiosk befand. Beflaggt mit einem Wimpel von Langnese, die Bild-Zeitung in der Auslage. Wir warteten dort auf unser letztes Verkehrsmittel, den Bus. Fast täglich stand dort ein Typ am Schiebefenster, des Kiosk, trank aus einem gekauften Fläschchen (als Kind dachte ich, dass das sehr wenig Wasser sei…), und echauffierte sich lautstark über die Schlagzeilen. „Lass gut sein, Uwe!“, mahnte die rundlich Frau den Stammgast. Und Uwe verstummte, sein „Wasser“ leerend. Den Kiosk gibt es heute nicht mehr. Er ist einem Wohnhaus gewichen.

Jetzt habe ich fast den Faden verloren, aber ich komme zurück zu Tante Jule. Ich habe überlegt, ob ich für diesen Text ihren Namen ändern soll, aber es würde dem Erlebten die Authentizität nehmen, außerdem hätte Tante Jule wahrscheinlich nichts dagegen, wenn ich über sie schreibe. Tante Jule, so nannten wir sie, weil sie sich mit „Jule“ vorgestellt hatte. Immer mittwochs trafen wir sie, direkt in der imposanten Bahnhofshalle, wo sich Stimmengewirr und der Rauch von Zigaretten miteinander unter der Decke sammelten. Sie stand direkt an der Brezelbäckerei, die wir immer belagerten, um zerbrochene oder leicht verbrannte Brezeln zu bekommen. Die Mitarbeiter hatten entweder Mitleid mit uns, oder wollten sich nicht von einer Flut von Kinderstimmen belabern lassen. Oft waren die Objekte unserer Begierde schon verpackt und ausgehändigt, noch bevor wir unsere Litanei gestartet hatten. Eine unserer Mitfahrerinnen war sehr geschickt , die Brezeln gekonnt an verbrannten Teilen zu trennen. Sie ist heute Chirurgin, an einer renommierten Uni-Klinik.  Mittwochs war aber alles anders, denn da wartete Tante Jule auf uns. Es war zur Gewohnheit geworden, dass sie uns  „ihre Kinder“ verköstigte. Wir durften uns alle etwas aussuchen, egal ob Hawaii-Stange, Schinken-Käse 🥨… Unter dem wohlwollenden Blick, durch dicke Brillengläser, trafen wir unsere Wahl. Die spendable Frau war vielleicht 1,60m groß, trug immer einen Strickhut und war sonst Ton in Ton gekleidet, wie es Senioren dem Anschein nach, immer tun, unbeirrt vom Lauf der Geschichte; einer Melange aus Beige-Grau. Tante Jule brachte uns immer dann immer noch bis zu unserem Zug und winkte uns nach, ihr Stofftaschentuch schwenkend. Tante Jule hatte eine energische Stimme, die voller Liebe war. Wir wussten von ihr nur, dass sie eine Tochter hatte, die im Schwarzwald lebte. Ansonsten war Tante Jule, einfach Tante Jule für uns. Bis zu dem Mittwoch in einem Herbst, wo wir vergeblich auf Tante Jule warteten. Wir schwärmten aus und durchkämmten den Bahnhof. Die kleine Frau war nirgends auffindbar. Mit der zunehmendem Gewissheit, dass wir Tante Jule nie wieder sehen würden, wuchs unsere Trauer. Die gemeinsame Erfahrung machte etwas mit uns, auch die Tatsache, dass wir Teil von Tante Jules Leben gewesen waren, und sie von unseren. Vielleicht haben viele meine früheren MitfahrerInnen Tante Jule heute vergessen, aber mir fiel sie ein, als ich über lange zurückliegende Erfahrungen und Erlebnisse nachgedacht habe.

Was sind deine Tante Jule Momente?

ENDE

 

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