Veröffentlicht: 14.02.2025. Rubrik: Menschliches
MANCHMAL, KLEINE DINGE
Es ist halb sieben, eigentlich keine Uhrzeit um fit zu sein, vor allem nicht am ersten Urlaubstag. Ausgestattet mit einem Becher Kaffee begebe ich mich auf die Suche nach meinen Wanderschuhen. Und entdecke ein anderes Paar. Komisch, wem gehören die denn!? Kurz bin ich am rätseln, dann fällt es mir ein: Es sind Laufschuhe, meine eigenen! Es ist viele Sonnenauf- und Untergänge her, dass ich sie getragen habe; eher Monate, viele Monate. Um ehrlich zu sein, welches Jahr ist gerade? …
Der Kaffee ist leergetrunken. Ich könnte den Schrank schließen, die Schuhe, Schuhe sein lassen, und den Tag mit einem leckeren Frühstück fortsetzen. Es wäre die geringste Herausforderung. „Rührei wäre lecker!“, raunt mein Magen. Eine leise Stimme in mir erinnert mich daran, dass ich vor Dekaden extra eine Stunde früher aufgestanden bin, um Laufen zu gehen, jeden Tag. Egal bei welchem Wetter, teils mit Stirnlampe und reflektierenden Klamotten. Unterwegs in völliger Dunkelheit, Schwüle, Regen…
Und heute!? – Ich lache mir im Spiegel entgegen. „Auf geht’s!“, ich bin schon unterwegs, in Richtung Küche. Stoppe abrupt. Das war gar nicht der Hunger der gesprochen hat. Der laute Ruf kam aus dem inneren Raum, wo die Motivation zuhause ist. Der innere Schweinehund unkt: „Du brauchst deine Laufklamotten, mit Rucksack wirst du schwitzen, aber sowas von. Du hast noch nicht mal ne Kleinigkeit gegessen! Du wirst draufgehen, wenn nicht auf halber Strecke, dann auf jeden Fall auf dem Rückweg…“.
Die Motivation setzt sich durch. Ich sprühe mich mit Mückenschutz ein, kann nicht schaden. Zeitlich nehme ich mir vor, dass ich mindestens 1h laufen gehe. Das wird konditionell auf jeden Fall drin sein. „Wenn du dich da mal nicht verschätzt!“, ich katapultiere den inneren Schweinehund aus seinem Wirkungsbereich. Voll motiviert laufe ich los. Nach einigen hundert Metern höre und spüre ich, wie sich Atmung und Schrittfolge rhythmisieren. Das ist ein beruhigendes Gefühl. Dieses Abstimmen des Körpers trägt mich über weite Distanzen, Höhenmeter rauf und runter.
Bei einem See verweile ich kurz, und werde prompt gestochen. Direkt neben der Uhr, den Bereich habe ich beim Besprühen ausgelassen. Es brennt und juckt ziemlich. Schnell weiterlaufen. Während ich durch die Landschaft laufe, bin ich dankbar dafür, dass mich das Leben an diesen Ort geführt hat. Die Umgebung hier ist ein Traum. Natur, überall wohin ich schauen kann. Neben der A2 zu laufen bietet sicher weniger Erholungswert, stelle ich mir zumindest so vor.
Laufen vereint so viele Möglichkeiten in einer Tätigkeit: Sinnieren über das Leben, draußen in der Natur sein, die Ausdauer zu stärken, neues entdecken.
Ich laufen eine Wiese hinunter, die vom Tau noch sehr feucht ist. Manchmal ist der Pfad ausgetreten von Wildtieren oder Reitern mit ihren Pferden. Heute leider nicht. Der Abstieg gleicht einem schneller werdenden Rutschen, mit wenig Bodenhaftung. Unten angekommen sehe ich mich mit einem zahlenmäßig überlegenen Gegner konfrontiert. Eine grüne Armada aus Brennnesseln steht auf dem feuchten Grund. Ich suche nach Lücken in dem dichten Grün. Vereinzelt sehe ich, dass sich Rehe den Weg durchgebahnt haben müssen. Mit meinem Outfit mache ich das ganz sicher nicht. Schnell ist ein Stock gefunden, mit dem ich versuche die Pflanzenwand zu verdrängen, klappt nicht, als Revanche für meinen Angriff peitschen mir die Pflanzen entgegen und erwischen meinen rechten Arm. Wie das brennt! Ich versuche zur Verteidigung eine schlagende Bewegung, von oben herab. Habe dabei keinen festen Stand, und rutsche direkt in das Meer aus Brennnesseln. Eine elegante Seitwärtsdrehung, die tausende Pieksdinger der Pflanzen schon erwartet haben, und meinen linken Arm packen. Schöne Scheiße!
Sunzi schrieb mal, „dass man wissen solle, wenn eine Schlacht verloren sei“, dass ist hier auf jeden Fall gegeben. Als einzigen Trost sehe ich, dass der Stich von dem Blutsauger nicht mehr so schmerzt. Der geht unter im Schmerz beider Arme. Ich kämpfe mich den Hang wieder hoch. Das Brennnesselfeld will ich umrunden, quer durch den Wald. Nutze einen alten Forstweg, bis zu einer Biegung. Dort ist es ziemlich duster und verdächtig ruhig. In der Luft steht ein schwerer Geruch. Es riecht nach Wildschweinen. Dann knackt es schwer im Unterholz, aus mehreren Richtungen. Ich halte mich an Sunzis Rat: „Kenne deine Gegner!“ Will ich hier gar nicht, also: taktischer Rückzug.
Die Situation hier wirkt schon grotesk, ist tricky, wie beim Spiel „Das verrückte Labyrinth“. Nirgends ein durchkommen. Es ist Zeit für eine Pause, ich muss was essen und trinken, leider hab ich das Wasser zuhause vergessen. Der Müsliriegel staubt beim Kauen, ähnlich wie der Wind der über dem abgemähten Feld aufsteigt. Ein Vogelschwarm verliert sich rufend. Ich lasse den Blick schweifen. Es könnte auch die Provence sein hier.
Manchmal sind es kleine Dinge, die das Leben so wunderbar und schön machen. Manchmal beginnt alles mit der Suche nach ein paar Wanderschuhen.
ENDE
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