Veröffentlicht: 25.09.2024. Rubrik: Menschliches
Die Fehleinschätzung
Um 8:45 stand Hans-Peter Meyer vor dem Büro seines Chefs. "Karl Hofmann, Abteilungsleiter, Marketing", stand auf dem kleinen Schild, das neben der Bürotür installiert war. Die kahlen Wände auf dem Flur waren schneeweiß, der blaue Boden war spiegelglatt und kalt. Die Leuchtstoffröhren an der Decke füllten den langen Flur mit einem unangenehmen Neonlicht.
Hans-Peter fröstelte. Er war nass und er war müde. Er hatte gestern Abend nicht einschlafen können. Heute hatte er verschlafen und war ohne Frühstück mit dem Fahrrad durch den Herbstregen des 1. Oktobers zur Arbeit gefahren.
Trotz der Kälte, die ihn durch seine nasse Kleidung und durch das Licht umgab und ihn zittern ließ, spürte er den Schweiß von seiner Stirn rinnen. Gleich würde er seinem Chef beichten müssen, dass er seine Aufgabe, das Anlegen eines Ordners mit allen für die Marketingabteilung relevanten Dokumenten, nicht erledigt hatte, obwohl er dies schon seit einigen Tagen unbedingt hätte tun müssen. Zögernd hob Hans-Peter die Hand, um zu klopfen. Er verharrte kurz in dieser Position, die Hand erhoben, dann zog er sie zurück. Er wandte sich von der Tür ab, um in sein eigenes Büro zu gehen. Karl Hofmann würde ihn schon noch früh genug auf den Ordner ansprechen. Hans-Peter war schon fast am Ende des Flurs Angelangt, da schalt er sich einen Hasenfuß, kehrte um und klopfte dreimal kräftig an die Tür seines Chefs.
"Herein!", kam es dumpf aber kräftig von innen. Hans-Peter öffnete die Tür. Er trat in einen großen Raum, in dessen Mitte ein schwerer Schreibtisch aus Eiche stand. In dem Stuhl hinter dem Schreibtisch saß Karl Hofmann. Heute kamen Hans-Peter die Gesichtszüge seines Chefs kalt und wenig herzlich vor, sonst hatte er sie immer als freundlich und zugewandt aussehend wahrgenommen. "Was gibt´s, Hans-Peter?", fragte Karl seinen Sekretären mit ausdrucksloser Miene. "Du bist sicherlich gekommen, um mir den Ordner mit den Dokumenten zu bringen, den ich seit mehreren Tagen von dir erwarte?"
"Er weiß genau, dass ich ihn nicht fertig habe. Deshalb fragt er absichtlich danach.", dachte Hans-Peter wütend und antwortete: "Nein, leider habe ich ihn immer noch nicht fertiggestellt. Ich bin noch nicht dazu gekommen, du weißt ja, ich habe gerade recht viel zu tun mit deinen Terminen und den ganzen Konferenzen.". "Ich muss diesen Ordner bei meinen Vorgesetzten abgeben, hätte es eigentlich schon tun müssen. Und du hattest wirklich keine Zeit in den letzten Tagen?", fragte Karl, immer noch ausdruckslos. "Stellt er das jetzt etwa in Frage?", dachte Hans-Peter und sagte dann: "Nein, ich erlaube mir zu wiederholen, dass ich stets beschäftigt war und deswegen keine Zeit fand, ihren Ordner zu erstellen." Schon während er das sagte, merkte er, dass er in seiner Situation vielleicht doch etwas hochmütig klang, doch er ließ im Raum stehen, was er gesagt hatte. "Nun, dann muss ich dich darauf hinweisen, lieber Hans-Peter,", sagte der, von der Forschheit seines Gegenübers erstaunte Abteilungsleiter nun doch leicht erregt, "dass du, wie mir scheint, deine Prioritäten besser setzten musst. Das Fertigstellen meines Terminkalenders für das nächste halbe Jahr kann noch einige Tage warten, aber diesen Ordner muss ich sobald wie möglich in den Händen halten. Ich hoffe du hast das verstanden?" "Natürlich", antwortete der Sekretär trotzig und beinahe hätte er noch hinzugefügt: `Mein Herr.` Er ließ es aber bleiben. Stattdessen sagte Karl, nun wieder vollkommen ausdruckslos: "Einen schönen Tag noch." Ohne eine Erwiderung stürmte Hans-Peter aus dem Büro seines Chefs.
In seinem, wesentlich kleineren, Büro angelangt ließ er sich in seinen Stuhl fallen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Insgeheim hatte er schon immer gewusst, dass sein Chef ihn nicht mochte. Nur hatte Karl Hofmann sich immer höflich, ja freundlich verhalten und abgewartet, bis sein Sekretär einen Fehler machte. "Und dann stürzt er sich auf mich mit seinen Belehrungen, die meiner nicht würdig sind!", dachte Hans-Peter wütend. Als seine Wut etwas abgekühlt war stand er auf und ging zur Kaffeemaschine. `Bitte Wasser Nachfüllen` las er auf dem kleinen Bildschirm des Automaten. Fluchend ging er mit dem Wasserbehälter, den er mit Mühe aus der Maschine gezerrt hatte, zum Waschbecken und zurück. Als der Kaffee fertig war, kehrte er in sein Büro zurück. Er trank einen Schluck und spie die braune Flüssigkeit sofort wieder aus. Heute schmeckte der Kaffee ekelhaft. Die Maschine hatte das Wasser nicht richtig erwärmt und der Pulverkaffee hatte schon zu lang an der Luft gelegen. Er langte nach der kleinen Schüssel mit den Zuckerwürfeln, die auf seinem Schreibtisch stand und ließ einen der Würfel in seinen Kaffee gleiten. Dann nahm er einen zweiten Schluck und verzog den Mund. Ein zweiter Zuckerwürfel landete im Getränk. Er probierte wieder. Der Kaffee war ekelhaft süß. Hans-Peter würde heute ohne das sonst so geliebte Puschgetränk auskommen müssen, was seine Laune nicht gerade besserte. Er überlegte, ob er aus Trotz gegenüber seinem Vorgesetzten erneut den Ordner nicht fertigstellen sollte, entschied sich aber anders. Er würde sich damit abfinden müssen, das Karl Hofmann ihn nicht mochte, aber er würde ihm nicht erneut Grund dazu liefern, dies zu zeigen. Und so machte sich Hans-Peter dann an die Arbeit, und war nach einer Dreiviertelstunde fertig.
Sofort trug er den Ordner zum Büro des Abteilungsleiters, klopfte an und ging hinein. Ohne ein Wort ließ er den schweren Dokumentenstapel auf den Tisch fallen. "Na endlich, schön, dass du es nun geschafft hast", rief Karl Hofmann und lächelte seinen kühl blickenden Sekretär an. "Nun werde ich mich wieder ihren vollkommen unwichtigen Terminkalendern zuwenden", entgegnete dieser übertrieben förmlich. Karl lachte: "Jetzt hast du alle Zeit der Welt für sie und jetzt sind sie auch wichtig. Aber du hast Recht, im Vergleich zum Ordner hatte ihre Fertigstellung keine große Dringlichkeit."
Während Hans-Peter das Büro verließ dachte er innerlich den Kopf schüttelnd: "Jetzt wo ich alles erledigt habe ist er natürlich wieder nett, aber er hört sich immer noch so überheblich an, wenn er mit mir spricht. Herr Gott, wie mich dieser Mann aufregt! Und mit ihm muss ich immer zusammenarbeiten! Ich fürchte, es wird mir schwer fallen, jemals wieder freundschaftlich mit ihm zu reden, da ich nun weiß, was er von mir als mein Vorgesetzter denkt."
Während des weiteren Verlauf des Tages machte Hans-Peter übel gelaunt seine Arbeit. Das Mittagessen schmeckte ebenso schlecht wie der Kaffee und beinahe hätte er sich noch mit dem Hausmeister angelegt. Zwischendurch löschte er mehrere Male aus Versehen den begonnenen Terminkalender, den er digital anlegte und musste dann wieder von vorn beginnen. Dies alles milderte seine Laune und damit seine Wut auf seinen Vorgesetzten nicht gerade. Doch er hatte vorerst kein weiteres Zusammentreffen mit Karl Hofmann. Erst als er sich auf den Weg nach Hause machen wollte, begegnete er ihm auf einem der Flure.
Ohne ein Wort lief Hans-Peter an seinem Abteilungsleiter vorbei. Der Tag war schrecklich gewesen und nun wollte er ohne ein weiteres Gespräch mit seinem anmaßenden Chef in sein trautes Heim. "He, Hans-Peter, warte!" Langsam drehte er sich um. "Was ist denn heute nur mit dir los? Hast du schlecht geschlafen? Oder habe ich irgendetwas falsch gemacht?", fragte Karl Hofmann verzweifelt, denn er konnte sich das merkwürdige Verhalten seines sonst so freundlichen Sekretärs nicht erklären. "Nein", antwortete dieser säuerlich, "Nein, Sie sind der Abteilungsleiter, Sie machen nichts falsch. Das ist die Aufgabe Ihres Sekretärs". Karl schnappte nach Luft. "Ihre Aufgabe besteht darin, mir zu sagen, wie unqualifiziert ich bin, wenn ich eine Arbeit nicht ganz nach ihren Vorstellungen erledigt habe. Und ich denke, dieser Aufgabe sind Sie heute sehr gut nachgekommen. Sie schienen sogar Spaß zu haben, wenn sie zwischendurch mal kurz auf subtile Weise den netten Kollegen gespielt haben!", schleuderte Hans-Peter seinem Chef entgegen. Dieser stand einfach nur da, er schien den Tränen angesichts der Schwere dieser Anschuldigungen nahe. Außerdem war er ratlos darüber, warum ihm sein Sekretär, den er, dachte er, immer recht gut behandelt hatte, nun solche Dinge an den Kopf warf, als wäre er ein Tyrann. Hans-Peter hatte den Mund schon geöffnet, um noch etwas hinzuzufügen, doch er sah die Feuchtigkeit in den Augen seines Gegenübers. Er schloss ihn wieder.
Es entstand eine Stille. Es war keine peinliche Stille, es war eine traurige Stille.
Hans-Peter blickte noch einmal in das Gesicht von Karl Hofmann. In dem Gesichtsausdruck des Abteilungsleiters lag nichts als Entrüstung und Trauer. War Hans-Peter zu weit gegangen? Hatte er sich vielleicht geirrt?
Ohne ein weiteres Wort eilte er davon. Doch das Entsetzen im Blick von Karl Hofmann verfolgte ihn noch auf dem Weg nach Hause und bis in den Schlaf.