Kurzgeschichten-Stories
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1xhab ich gern gelesen
geschrieben von MacMike.
Veröffentlicht: 30.07.2024. Rubrik: Unsortiert


Paul

Paul saß am Küchentisch und löffelte hastig sein Müsli, während im Hintergrund Bea versuchte Amelie davon zu überzeugen, dass ein Schlafanzug nicht die geeignete Kleidung für den Besuch eines Kindergartens sei. Dies gelang allerdings nur mäßig und Paul spürte, dass die Geduld seiner Frau so langsam zur Neige ging. Zeitgleich hüpfte Amelies nicht eineiiger Zwillingsbruder Aaron auf einem Bein singend durch die Küche und verteilte großzügig die Krümel seines Brötchens über den Boden. Dies zur großen Freude von Bomber, einem 3 jährigen Terrier Mix, der, aus dem Tierheim stammend die Familie vervollständigte.
Genau so hatte Paul sich seine Zukunft immer gewünscht: Einen gut bezahlten Job als Verwaltungsangestellter bei der örtlichen Krankenkasse, eine hübsche Frau, die ihren geliebten Beruf als Architektin nach der Elternzeit wieder in Teilzeit ausführen konnte, den beiden Kindern, den obligatorischen Hund und natürlich dem Eigenheim, eine Doppelhaushälfte am Rande der Stadt mit kleinem Garten. Sein Leben war perfekt!
Während er sich nun für seinen Aufbruch zur Arbeit bereit machte, fiel sein Blick auf das Hochzeitsfoto auf dem Sideboard und die Erinnerungen daran ließen ihn lächeln.
Er hatte Bea bei einem Restaurantbesuch seines Lieblings-Griechen kennengelernt, welches er mit seinem Kumpel Jörg besuchte. Mit den Getränken bewaffnet, versuchten sie sich einen Weg durch den vollen Biergarten zu einem freien Tisch zu bahnen, als Paul stolperte und Anne, die mit ihrer Freundin Bea an einem kleinen Tisch im Gang saß und an der Vorspeisenplatte arbeiteten, mit dem halben Glas Cola in seiner Hand übergoss. „Hey! Bist du vollkommen bescheuert?!“, brüllte sie ihn an während sie aufsprang und versuchte, ihre nun sehr nasse und klebrige Bluse irgendwie mit ein paar Servierten zu trocknen. „Das tut mir schrecklich leid!“, stammelte Paul, dem die Situation extrem peinlich war, vor allem, weil nun alle Anwesenden sich dem Geschehen zuwandten und er es noch nie mochte im Mittelpunkt zu stehen. „Warte, ich helfe dir“, versuchte er nochmal sich zu Entschuldigen, nahm ein paar Servierten vom Nachbartisch und begann damit an Anne herum zu tupfen. „Nimm dein Hände da weg du Idiot!“, keifte sie und eilte schnellen Schrittes in Richtung Toilette. Erst jetzt bemerkte er Bea, die mit einer Mischung aus Entsetzen und Belustigung zu ihm aufsah. „Bist du immer so geschickt im Umgang mit Kaltgetränken? Kann man dich für Partys und anderen Feiern als Rausschmeißer buchen?“ Sie lächelte ihn nun direkt an, was ihm die ganze Sache nur noch unangenehmer werden ließ. „Es tut mir wirklich leid“, wiederholte er noch einmal. „Ist deine Freundin jetzt wohl sehr sauer? Soll ich hinterhergehen und ihr helfen?“ Bea lachte auf. „Nein! Bloß nicht! Bleib ihr lieber fern wenn du den Rest des Abends noch erleben möchtest! Nein, kleiner Scherz. Sie kriegt sich gleich schon wieder ein. Ah, da kommt sie auch schon wieder.“ Paul überlegte, wie er schnell aus dieser Situation
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verschwinden könne, da stand Anne auch schon vor ihm und blickte ihn finster an. „Du hast Glück, dass dies nicht meine Lieblingsbluse ist. Und durch den Cola Fleck fällt jetzt das Tzaziki auf meiner Bluse nicht mehr auf. Ich sollte dir vielleicht sogar danken!“ Da sie bei dieser Aussage weder lächelte noch sonst wie entspannt wirkte murmelte Paul ein „gern geschehen“, und wollte schleunigst den Tatort verlassen. Er zog Jörg am Ärmel, doch dieser machte keine Anstalten weiter zu gehen. „Können wir den beiden Damen vielleicht als Wiedergutmachung ein Getränk spendieren?“. Ohne eine Antwort abzuwarten winkte Jörg den Kellner zu sich und bestellte 4 Ouzo. Paul war froh, dass die beiden jungen Frauen an einem Zweiertisch saßen und Jörg nicht die Gelegenheit ergreifen und sich dazu setzen konnte. „Vielleicht sieht man sich ja mal wieder?“ zwinkerte Jörg nach dem Ouzo den beiden zu, worauf Anne antwortete: „Das muss nicht sein, ich besitze nicht so viele Blusen zum wechseln!“, und widmete sich wieder dem Vorspeisenteller und ihrer Freundin Bea.
Einige Tage später, Paul stand am Regal der Kinderbuchabteilung des einzig verbliebenen Buchladens im Ort, um für seine 3jährige Nichte ein Vorlesebuch als Geburtstagsgeschenk zu kaufen, hörte er hinter sich eine Stimme: “Hi, kann ich dich ansprechen oder hast du ein Getränk in der Hand?“. Er blickte sich um und sah Bea, die ihn breit anlächelte. „Oh, hi“, antwortete Paul überrascht, „ist schon in Ordnung, ich bin unbewaffnet. Was treibt dich hierher?“ Was für eine selten blöde Frage, dachte Paul und spürte wie er errötete. Doch Bea lächelte weiter und erklärte ihm, dass sie auf der Suche nach einem Geschenk für ihre Freundin sei. Dies sei aber nicht so einfach, denn in deren Augen sei nicht jeder gleich ein Schriftsteller, nur weil er halbwegs gerade Sätze aufs Papier bringen könne. Der Anspruch war also hoch und dementsprechend schwierig gestaltete sich die Suche. „Soll ich dir suchen helfen? Ich kenne da den ein oder anderen guten Autor, vielleicht finden wir gemeinsam etwas?“ Bea willigte ein, sie suchten, wurden fündig, gingen anschließend einen Kaffee trinken, sprachen lange über Gott und die Welt und genossen die Gemeinsamkeiten.
Sie verabredeten sich von da an zu verschiedenen Events und verbrachten immer mehr Zeit miteinander. Während eines Kreta Urlaubs, Paul verbrachte als Kind dort mehrfach den Sommerurlaub mit seinen Eltern und liebte seitdem diese Insel, machte er Bea einen Heiratsantrag in den Ruinen des Palastes von Knossos. Geheiratet wurde dann bereits im darauffolgenden Sommer ebenfalls auf Kreta, wobei Beas Familie aus zeitlichen Gründen nicht dabeisein konnte. Von da ab ging alles Schlag auf Schlag. Die Kinder erblickten schon bald darauf das Licht der Welt, Pauls zu kleine Wohnung wurde gegen ein Haus getauscht und das Familienleben nahm Fahrt auf. Paul genoss diesen Zustand und wunderte sich immer wieder, wie schnell doch alles ging und wie glücklich er war.
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Irgendwo aus einer Ecke piepte ein elektronisches Signal. Es klang fremd und irgendwie fehl am Platz. Leise, entfernte Stimmen und Schritte waren zu hören, die auch nicht so recht in das Hier und Jetzt seines Bewusstseins zu passen schienen. Paul versuchte die Augen zu öffnen, um zu sehen was hier vor sich ging. Es gelang ihm nicht. Stattdessen tauchte vor seinem inneren Auge der Palast von Knossos auf, in den Ruinen stand eine gesichtslose Frau. Bea? Er wollte ihren Namen rufen, auf sie zulaufen, sie umarmen, da verblasste das Bild und es wurde dunkel.
Irgendwann hörte er erneut das Piepen, dass wie aus einem anderen Universum hallend den Weg in sein Bewusstsein fand. Es wurde lauter und nun vernahm er es wieder klar und deutlich. Auch die anderen Geräusche waren wieder da und erneut wusste Paul nicht, was sie zu bedeuten hatten oder woher sie kamen. Er versuchte abermals die Augen zu öffnen, konzentrierte sich auf die Lider und erst flackernd und Stück für Stück, dann mit einem Ruck wurde es unerträglich hell! Paul schloss rasch die Augen, die von der plötzlichen Helligkeit zu tränen begannen. Er wollte sie mit dem Handrücken trocken wischen, aber aus unerklärlichen Gründen konnte Paul den Arm nicht bewegen. Was war hier los? Der Versuch, andere Körperteile zu aktivieren schlug ebenfalls fehl. Paul überkam namenlose Angst. Was war passiert? War er tot? Oder gelähmt? Und warum? Tausend Fragen dröhnten durch seinen Kopf. Langsam öffnete er seine Augen erneut, immer nur ein wenig um die gleissende Helligkeit in Schach zu halten. Es schien zu funktionieren. Seine Augen tränten zwar immer noch, aber nicht mehr so stark, so dass er einen kurzen verwaschenen Blick von seiner unmittelbaren Umwelt erhaschen konnte. Er lag in einem Bett, so viel war schnell klar, aber wo war er? Verschwommen konnte Paul Gegenstände erkennen, die er in erster Linie mit einem Krankenhaus oder ähnlichem in Verbindung bringen würde. Mit dieser Erkenntnis schloss Paul müde die Augen, wollte sie aber gleich wieder öffnen um Antworten auf die vielen Fragen in seinem Kopf zu bekommen. Doch alles was er zu sehen bekam waren bunte Farben, verwaschene Bilder und Nichts!
„Hallo der Herr, da sind sie ja wieder!“. Paul sah verschwommen eine Frau unbestimmten Alters vor sich, die mit irgendwelchen Gegenständen hantierte und sich nun über sein Gesicht beugte. „Bleiben sie bei uns, ich hole nur mal schnell den Arzt.
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Nicht wieder abtauchen, gelle?“, sprach’s und verschwand wieder aus seinem Blickwinkel. Er war in einem Krankenhaus, dessen war er sich nun sicher. Aber was tat er hier und vor allem, was war geschehen?
„Guten Tag. Mein Name ist Dr. Walther, ich bin der Chefarzt dieser Station. Wissen sie, wo sie sich befinden?“. Paul versuchte „Krankenhaus?“ zu murmeln, was etwas verwaschen und unverständlich klang, wie er glaubte. „Hmhm“. Dr. Walther nickte. „Und wissen sie auch wie sie heißen?“ „Paul, Paul Krämer.“ „Sehr gut! Und warum sie hier sind wissen sie auch?“. „Nein!“, konnte man nun schon wesentlich deutlicher vernehmen. Paul schnitt ein paar Grimasen um seine Gesichtsmuskeln zu lockern. „Was zum Henker tue ich hier!? Wieso kann ich mich nicht bewegen!? Scheiße!!!“. Das letzte Wort hätte er gerne gebrüllt, verschluckte sich aber dabei und bekam einen Hustenanfall. „Ok, alles der Reihe nach. Beruhigen sie sich erst einmal. Das Schlucken fiel ihm schwer und sein Hals tat weh, er konnte sich aber nicht erklären warum. „Wieso kann ich mich nicht bewegen?“. „Oh, das wird wieder“, sagte Dr. Walther und warf einen Blick auf das Tablett in seinen Händen. „Wie sie schon richtig bemerkt haben, befinden sie sich in einem Krankenhaus, genauer gesagt in der Marien Klinik. Sie hatten einen schweren Verkehrsunfall. Können sie sich daran erinnern?“. Paul schüttelte den Kopf. „Nein, gar nicht. Ich kann mich nur erinnern, dass ich gestern Morgen mit dem Rad zur Arbeit fahren wollte...“. „Ok.“, Dr. Walther notierte etwas auf seinem Tablett. „Es war allerdings nicht gestern, sondern bereits vor 3 Wochen. Wir mussten sie in ein künstliches Koma legen um ihre Genesungschancen zu verbessern. Sie wurden zwischenzeitlich künstlich beatmet, weshalb sie auch noch Probleme mit dem Sprechen und Schlucken haben dürften. Sie sind aber keinesfalls gelähmt, um ihnen diese Angst zu nehmen. Die Bewegungsbeeinträchtigung ist nicht auf einen Hirnschaden zurückzuführen, sondern rein Psychosomatisch. Mit etwas Reha und viel Training bekommen wir das schon wieder hin.
Wir konnten leider keinen direkten Angehörigen finden, den wir hätten benachrichtigen können. Sollen wir jemanden für sie kontaktieren?“. Paul überlegte kurz. Diese Aussage verwirrte ihn. Wieso gab es keine Angehörigen? „Ich weiß nicht“, antwortete er. „Hatte ich denn nichts bei mir? Wo ist mein Mobiltelefon? Da sind doch alle meine Kontakte drin gespeichert!“. „Nun,“ sagte die Schwester, die während der ganzen Zeit geschäftig durch das Zimmer wuselte und nun wieder an sein Bett trat. „Die Polizeistreife, die den Unfall aufgenommen hatte, hat uns später alle ihre persönlichen Dinge übergeben, die sie bei sich hatten. Darunter auch ein Mobiltelefon. Nur leider wurde dies bei dem Unfall so stark beschädigt, dass man es nicht mehr aktivieren konnte. Leider hatten sie wohl auch keinen Ausweis oder etwas anderes dabei, womit wir ihre Identität hätten feststellen können. Wie sieht es denn mit Familie aus? Partner, Eltern etc.?“. Paul
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dachte kurz nach. Bea! Natürlich! Seine wunderbare Frau! „Bea Krämer,“ sagte er nun laut. „Meine Frau. Bitte rufen sie sie an!“ „Können sie mir eine Telefonnummer nennen?“, die Schwester nahm einen Stift aus ihrer Kitteltasche um die Nr. Notieren zu können. Verdammt! Paul konnte sich nicht an die Telefonnummer erinnern. Er hatte sie auch nie auswendig gewußt. Warum auch? Er hatte sie ja, wie auch alle anderen Nummern eingespeichert. Und eine Festnetznummer hatte er nicht, da er alle Internet Aktivitäten und Telefonate über seinen Mobilfunkanbieter tätigte. „Meine Mutter! Rufen sie bitte meine Mutter an! Frau Bärbel Krämer, Rathausplatz 10. Die Nr. finden sie im Telefonbuch unter B. Krämer.“ „Ok, machen wir“, sagte die Schwester und notierte sich alles. „So, jetzt entspannen sie sich erst einmal. Gleich bringt ihnen jemand was gutes zu Essen und wir sehen uns dann später wieder. Machen sie sich nicht allzu viele Gedanken, alles wird gut!“ Mit diesen Worten wandte sich der Chefarzt zum Gehen, gefolgt von weiteren Personen in weißen Kitteln, die die ganze Zeit schweigend im Hintergrund gestanden hatten.
Als Paul das nächste mal die Augen aufschlug, stand eine ihm unbekannte ältere Frau an seinem Bett. Da sie keine Krankenhauskleidung trug vermutete er, sie sei eine von den freiwilligen, ehrenamtlichen Helferinnen, von denen er mal gehört hatte. Sie besuchten Patienten, die z.B. keine Angehörige hatten oder lasen Koma Patienten vor oder „unterhielten“ sich mit ihnen. Warum sie allerdings zu ihm kam war ihm ein Rätsel.
„Hallo Paul, wie geht es dir?“ sagte sie und legte seine rechte Hand zwischen ihre. Aha, sie kannte ihn also, dachte Paul. Aber er sie nicht. Er sah sie verständnislos an. „Schon gut,“ sagte sie und versuchte dabei ein kleines Lächeln, „der Dr. hatte mich bereits vorgewarnt, das du mich vielleicht nicht sofort erkennen würdest. Er sprach von „Retrograder Amnesie“, also einem kurzzeitigem Gedächtnisverlust. Herbeigeführt wohl durch den Unfall. Aber nach seiner Meinung dauert es in der Regel nicht lange, bis du dich wieder an fast alles erinnern kannst. Man muss nur Geduld haben.“ Sie wischte eine Träne von ihrer Wange und versuchte weiterhin, aufmunternd zu lächeln. „Ich bin übrigens deine Mutter. Du hast der Schwester gesagt, sie solle mich kontaktieren.“
„Das ist doch alles totaler Mist!“ Paul fühlte wie Hilflosigkeit, Angst und Verständnislosigkeit in ihm aufwühlten und eine Panik ihn zu überrollen drohte.
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Gedanken kreisten wie ein Mahlstrom durch sein Gehirn: Er ist in einem Krankenhaus aufgewacht; kann sich nicht an den Grund dafür erinnern warum er hier ist; eine unbekannte Frau steht an seinem Bett und behauptet seine Mutter zu sein... Was kommt noch?! Ist dies eine völlig üble und asoziale Version der „versteckten Kamera“?!
Ein Pfleger, den Paul bis dato noch nicht gesehen hatte kam zu ihm und gab ihm eine Spritze. „So,“ sagte er, „dies ist nur ein wenig zur Beruhigung. Einfach locker weiter atmen. Sehen sie?“ Er lächelte Paul an, wie alle die hier arbeiteten scheinbar grundsätzlich ihn anlächelten und Paul spürte, wie sein Herzschlag sich langsam beruhigte. Schweiß stand auf seiner Stirn, den nun seine „Mutter“ mit einem Taschentuch abtupfte. Er konzentrierte sich auf seine Atmung und deren Fluss durch seinen Körper und spürte, wie er allmählich zur Ruhe kam. Er hätte nie gedacht, dass dieses Weiterbildungs Seminar „Achtsam Leben“ der Krankenkasse ihm dann doch mal nützlich sein sollte.
Er blickte diese unbekannte Frau nun direkt an und begann zu weinen: „Was ist passiert? Warum bin ich hier? Und warum kann ich mich an manche Dinge erinnern und an andere nicht? Und wenn sie meine Mutter sind, warum kenne ich ihren Namen aber nicht ihr Gesicht? Und wo verdammt noch mal ist Bea?!“ Er weinte nun hemmungslos und bemerkte nur sehr zeitverzögert, dass er sich die Tränen mit seiner eigenen Hand abwischte, die nun nicht mehr von seiner Mutter gehalten wurde. In seinen Tränenfluss stahl sich nun ein kleines Lächeln: „Sieh mal, ich kann meine Arme und Hände wieder bewegen und warte, schau, auch die Beine und Füße!“ Erneut flossen Tränen über seine Wangen, gefolgt von einigen Schluchzern und Flüchen ob der ganzen Situation.
Seine Mutter nahm erneut seine Hand und wischte mit der anderen seine Tränen fort. „Die schwarzen Löcher in deinem Gedächtnis werden bald wieder verschwunden sein und du wirst dich, vielleicht nicht an alles, doch aber an das meiste wieder erinnern können. Bis dahin helfe ich dir die Leere zu füllen:
Du hattest vor einem Monat auf dem Weg zur Arbeit einen Verkehrsunfall mit deinem Rad. Ein LKW Fahrer hat dich beim Rechtsabbiegen übersehen und gerammt. Du bist so unglücklich gestürzt und mit dem Kopf auf den Bordstein aufgeschlagen, dass du, hättest du keinen Helm getragen wohl jetzt nicht mehr mit mir reden könntest!“ Nun war es seine Mutter, die zu weinen begann, aufstand und wahllos durch das Zimmer ging. „Durch den Sturz hast du dir einen Schädelbruch, ein paar Quetschungen und blaue Flecke zugezogen. Bis auf den Schädelbruch zum Glück also nur ein paar Schrammen. Du hattest verdammt viel Glück!“
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„Aber wo ist Bea und warum ist sie nicht hier?“. Paul versuchte sich etwas gerader aufzusetzen. Seine Mutter drehte sich ihm wieder zu und sah ihn fragend an. „Es tut mir leid, ich kenne keine Bea. Ist das deine neue Freundin?“ „Wie? Was soll das heißen, du kennst sie nicht?! Deine Schwiegertochter? BEA?! Willst du mich verarschen?! Mir geht es wirklich nicht gut, also hör auf mit der Scheiße!“. Wut und Verwirrung standen nun deutlich in seinem Gesicht. Mit geballten Fäusten saß Paul aufrecht im Bett und sah seine Mutter wütend an. „Wer von uns hat denn nun den Gedächtnisverlust? Du oder ich!“. „Es tut mir leid Paul, ich habe wirklich keine Ahnung von wem du redest. Ich kenne Bea nicht.“ „Aber das kann doch nicht sein! Was wird hier gespielt? Wer sind sie? Meine Mutter offensichtlich nicht! Ich habe keine Lust auf irgendwelche blöde Spielchen, ausserdem bin ich müde! Gehen sie einfach!“. Paul sackte wieder auf sein Bett und drehte sich Richtung Wand, weg von der Person in seinem Zimmer, die mit Tränen in den Augen langsam Richtung Tür ging. „Ich komme morgen wieder. Schlaf gut mein Schatz.“
Doch Paul konnte nicht einschlafen. Zu groß war die Verwirrung. Alles drehte sich in seinem Kopf. Wenn dies nicht seine Mutter war, was wollte sie dann von ihm? Und wenn doch, warum leugnete sie dann Bea zu kennen?
Der Pfleger betrat erneut das Zimmer, und hantierte an dem Tröpfler an seinem Bett herum. „Hören sie mal“, sagte Paul, „ich habe gestern, vorgestern, keine Ahnung wann einer Schwester den Namen meiner Mutter genannt und gebeten sie anzurufen. Können sie sie bitte mal herrufen? Ich würde sie gerne etwas fragen.“ „Sie meinen wahrscheinlich Schwester Doris. Ich sage ihr Bescheid wenn sie kommt. Sie hat heute Spätdienst. Versuchen sie in der Zwischenzeit mal etwas zu schlafen. Ihr Kopf braucht noch viel Ruhe.“ Lächelnd ging der Pfleger wieder aus dem Zimmer und schaltete das Licht aus. Paul wusste nicht wie spät es war, er hatte keine Uhr an seinem Bett oder im Zimmer und durch das Fenster kam nur diffuses Licht herein. Aber eigentlich war es ihm auch egal. Er war nun tatsächlich sehr müde, schloss die Augen und hoffte, das, wenn er sie wieder öffnete sich alles nur als schrecklichen Albtraum herausstellte.
„Sie wollten mich sprechen?“ Schwester Doris kam mit Schwung in sein Zimmer, schaltete das Licht an und trat an sein Bett. Paul rieb sich die Augen, offensichtlich war er dann doch eingeschlafen und noch offensichtlicher war dies kein Alptraum. Es sei denn, er schliefe immer noch, was sich aber dann ziemlich real anfühlte. Verwirrt aber dankbar blickte Paul die Schwester an. „Ja, richtig. Danke das sie gekommen sind. Sie hatten doch vor ein paar Tagen meine Muter kontaktiert. Sind sie sicher, dass sie die
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richtige erwischt haben?“. „Ich denke schon, warum fragen sie?“. „Nun, scheinbar kann ich mich nicht mehr an das Aussehen meiner Mutter erinnern, denn diese Frau, die mich besuchen kam und sich als eben diese ausgab kannte ich nicht. Sie mich aber scheinbar schon. Nur nicht meine Frau Bea, was mich etwas irritiert. Warum sollte sie meine Frau leugnen zu kennen? Das ergibt doch alles gar keinen Sinn!“ Paul nahm einen großen Schluck aus der Wasserflasche auf seinem Nachttisch und legte sich wieder zurück auf sein Bett. „Da gebe ich ihnen recht“, sagte Schwester Doris. „Klingt schon ein bisschen komisch. Allerdings kenne ich weder ihre Mutter noch ihre Frau um etwas dazu sagen zu können. Sagen sie ihr doch, sie solle beim nächsten Besuch mal ein paar Fotoalben mitbringen. Vielleicht hilft ihnen das sich wieder besser zu erinnern.“ „Das ist eine gute Idee!“ Paul nahm den Zettel mit der Telefonnummer, die die Schwester für ihn rausgesucht hatte und suchte nach seinem Handy, um seine Mutter anzurufen. „Hm, dass wird wohl nix!“ Schwester Doris schien seine Gedanken gelesen zu haben. „Erstens ist ihr Handy kaputt und zweitens haben wir es bereits nach Mitternacht. Ich denke, ihre Mutter wäre über einen Anruf zu dieser Stunde nicht sehr begeistert. Ich lasse ihnen morgen ein Telefon aufs Zimmer freischalten, dann können sie direkt nach dem Frühstück telefonieren. Bis dahin versuchen sie weiterzuschlafen.“ Dies schien die magische Antwort und Heilmethode auf Alles hier zu sein. Einfach schlafen.
Schwester Doris schaltete beim hinausgehen das Licht wieder aus und da Paul weder was zu lesen noch sonst etwas zum Zeitvertreib an seinem Bett hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als erneut die Augen zu schließen und zu schlafen, um die vielen Gedanken aus seinem Hirn zu vertreiben.
Lautes Vogelgezwitscher weckte Paul aus seinen immer noch verstörenden, verwirrenden Träumen. Was hatte er diesmal geträumt? Er saß in einem riesigen Kettenkarrusell neben einer schönen Rothaarigen, die laut quietschend vor Vergnügen die Fahrt genoß, während im Hintergrund die Musik einer bekannten Werbung den schönen Tag besang. Mehr Klischee ging nicht! Wer sollte die Rothaarige sein? Bea? Eine Verflossene aus Jugendzeiten? Paul wusste es nicht. Eigentlich kannte er gar keine Rothaarigen oder hatte gar etwas mit einer. War seine Tochter nicht ein halber Rotschopf? So ein Mittelding aus Blond und Rot? Oder sein Sohn? Die Gedanken begannen sich zu drehen und nahmen immer mehr Fahrt auf, was es es extrem schwierig machte, auch nur einen davon festhalten zu können. Sobald er einen meinte festhalten zu können, kam ein anderer, nahm seinen Platz ein und übergab den Staffelstab dem nächsten, der schon in Warteposition lauerte.
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Wie spät war es wohl nun? Draussen schien es immer noch dunkel zu sein und an seinem Bett stand auch noch kein Telefon, wie Schwester Doris versprochen hatte. Er ging ans Fenster, öffnete die Vorhänge und schaute in eine stille Welt hinaus, der es egal war, ob es einen Paul Krämer gab oder eine Bea oder sonst wen. Paul hatte nie ernsthaft an Gott geglaubt. Seine Konfirmation hatte er nur über sich ergehen lassen, um dabei die Geschenke, insbesondere das Geld abgreifen zu können. Bei dem Gedanken daran fühlte er sich schäbig. Hätte er nicht dazu stehen können wie sein damaliger Kumpel Thorsten, der, weil er mit der Kirche auch so gar nichts anfangen konnte klar gesagt hatte, er würde an der Konfirmation nicht teilnehmen und verzichte auf alles kirchliche! Paul hätte sich auch gerne in manche anderen Fragen mehr Rückgrat gewünscht, aber sein Leben schien irgendwie vorbestimmt und er hatte sein Rolle zu spielen. Glaubte er.
Nun stand er da am Fenster und überlegte, ob nicht doch vielleicht ein übernatürliches Wesen alle Fäden zog und sich vielleicht seine eigene Augsburger Puppenkiste schuf.
Blödsinn! Paul ging zurück ans Bett, setzte sich auf die Kante, nahm sein schwer ramponiertes Handy in die Hand und versuchte, dieses zum wiederholten Male zum Leben zu erwecken. Natürlich wie immer ohne Erfolg. Er befand sich nun schon seit, hm, schon ziemlich lange hier im Krankenhaus und ausser seiner „Mutter“ hat ihn noch niemand besucht! Was war mit seiner Frau? Mit seinen Kindern? Was war mit seinen Freunden? Warum zum Henker besuchte ihn niemand? Sie mussten doch längst wissen, dass er im Krankenhaus lag!
Die Tür seines Zimmers wurde aufgeworfen und eine schrille Stimme verkündete einen guten Morgen! Paul fühlte sich an einen „Werner“ Comic erinnert und musste grinsen. Offensichtlich war es dann doch schon später, als er vermutet hatte. Kurz nachdem die schrille Stimme, nachdem sie das Bettlaken festgezogen, den Tröpfler überprüft und die Kissen aufgeschlagen hatte wieder das Zimmer verließ, kam die nächste Kraft in Weiß. Diesmal ein junger Mann, der ihm, freundlich lächelnd das Frühstück ans Bett stellte und schwungvoll das Zimmer wieder verließ. Kurz darauf ging die Tür erneut auf, der immer noch freundlich lächelnde Pfleger blickte herein und verkündete, das dass Telefon nun freigeschaltet sei und er anrufen könne, wohin immer er wolle.
Paul nahm das Telefon zur Hand, wählte die Nummer, die Schwester Doris ihm aufgeschrieben hatte und ließ es klingeln. Nach längerem Tuten meldete sich eine etwas verschlafene Frauenstimme: „Krämer?!“ „Hi, äh hallo, hier ist Paul. Der aus dem Krankenhaus, dein, äh Sohn?“ Stille. „Hallo?“ „Ja, ich bin dran“. Ein Schluchzen, dann ein Räuspern, dann ein bemüht freundlicher, ruhiger Ton. „Hallo Paul, schön das du
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dich meldest. Wie geht es dir?“ „Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht! Wer bin ich? Wer bist du? Wer ist Bea und wo sind meine Kinder?!“
„Ehrlich Paul, ich weiß es nicht. Ich habe vor ein paar Tagen mit einem Psychologen über dich gesprochen und er sagte, das dass, was du glaubst zu wissen, es tatsächlich nur in deinem Hirn existiere. Also quasi eine Wunschvorstellung eines Lebens, welches du dir in all den Jahren ausgemalt hattest. Es gibt keine Bea und auch keine Kinder! Ich müsste das doch wohl wissen als deine Mutter. Du hast dir das alles nur eingebildet!“
„NEIN“ DAS KANN NICHT SEIN! ICH LIEBE MEINE FRAU UND MEINE KINDER!“ „Paul bitte! Ich komme jetzt sofort zu dir! Ich liebe dich mein Schatz!“
Während die Ärzte beratschlagten, ob sie Paul in eine psychiatrische Klinik überführen sollten, verließ dieser, immer noch in der Rückenfreien Krankenhauskleidung völlig unbehelligt die Klinik, hielt ein zufällig vorbeikommendes Taxi an und gab dem Fahrer die Adresse seines Wohnortes an.
Am Ziel angekommen, stand Paul vor einem ziemlich großen Waldstück, ohne Häuser, ohne Straßen.
Der Fahrer des Taxis war längst wieder, ob der Möglichkeit eines weiteren lukrativen Gastes verschwunden, so dass Paul nun inmitten einer wunderschönen, aber dennoch häuserlosen Gegend alleine stand. Es ergab alles keinen Sinn!
Er drehte sich in alle Richtungen. Nichts war bekannt und doch kannte er alles!
Nur sein Leben kannte er nicht mehr! Hatte er ein Leben? Gab es dieses überhaupt? Gab es ihn?
Langsam ging er irgendeine Straße entlang, von der er sicher war, sie würde ihn zurück in das Zentrum des Ortes führen. Warum er dies tat und vor allem wohin? Er wußte es nicht. Sein Weg führte ihn vorbei an einen Kirchturm, den er natürlich noch aus seine Kindheit und Jugend kannte. Dieser besaß eine Art Balkon, der rund herum führte und von dem man sagte, dass von hier früher Lügner und Betrüger auf gerichtliche Anweisung zur Abschreckung heruntergestürzt wurden.
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Paul stieg die Treppe des Turmes hinauf, bis er an der Brüstung stand und einen weiten Blick über den Ort, der Stadt und seines Lebens hatte.
Er war allein! Es gab keine Ehefrau Bea! Keine Kinder! Es war alles nur ein verdammter Traum seines kranken Hirns! Wunschdenken! Blödheit! Ein kleiner Schritt, ein Sprung, ein Fall, ENDE!
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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Marlies am 31.07.2024:


Moin Mac Mike.
Was für eine schreckliche Vorstellung nach einem Unfall, nicht mehr man selbst zu sein.
In unserer Motorradclique
In den 80 iger Jahren hatte ein Freund solch einen schrecklichen Unfall.
Nach schwersten Kopfverletzungen war er nie wieder der Alte.
Du hast das sehr Eindrucksvoll beschrieben.

Liebe Grüße
Marlies



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