Prioritäten

Sabine Wegener ließ das Telefon läuten. „Nicht schon wieder“, raunte sie. „Ich hab‘ jetzt keine Zeit“. Das Kunden aber auch so nervig sein können. Es war garantiert ein Kunde, denn ihren Kollegen hatte sie bereits abgewöhnt, sie mit Anrufen zu belästigen. „Schickt mir ne Mail“, wurden diese abgewimmelt. Im Gegensatz zum Telefon waren Mails eine tolle Erfindung – zumindest in der Arbeit. Man konnte sie löschen, ignorieren und dann beantworten, wenn es gerade passte. Oft erledigten sie sich auch von selbst. Privat war das natürlich etwas anderes. Mit ihrer Freundin Chrissi schaffte sie es locker zwei Stunden am Stück zu telefonieren. Mails gehen da gar nicht. Sie wedelte mit ihrer linken Hand in der Luft und betrachtete zufrieden die Arbeit der letzten 15 Minuten. Ein toller Nagellack - mit dem Glitzer und der leuchtenden Neonfarbe, einfach toll. Shirin David benutzt denselben. Schade, dass er nicht schnelltrocknend ist. Aber hier in der Arbeit spielte das keine Rolle.
Das Telefon klingelt. „Nicht schon w … oh, der Chef.“ Sabine griff mit zwei Fingern nach dem Telefonhörer. „Sabine Nagl. Guten Tag, Herr Direktor. Ja, Herr Direktor. Ja – ( dann ein zustimmendes mmh ). Oh, eine Statistik. Bis wann ? In zwei Stunden ? ( der Tonfall war eine Mischung aus Panik und Hysterie ). Herr Direktor, Sie können sich ja gar nicht vorstellen, was heute hier los ist. Ich weiß wirklich nicht wie ich das alles schaffen soll. Und dann noch die vielen Kundenanrufe“. Es folgt eine kurze Pause. „Das ist nett, Herr Direktor. Tut mir leid und vielen, vielen Dank. Ich bin mir sicher, Frau Müller kann die Statistik noch kurzfristig einschieben. Das nächste mal wieder gerne, aber wie gesagt, heute ... Auf wiederhören, Herr Direktor“.
Sabine atmet erleichtert auf. Das war knapp. Sie greift nach ihrem Handspiegel, den sie in der Schreibtischschublade griffbereit liegen hat und prüft, ob man ihr den Stress des Tages bereits ansieht. Außer ein paar Krähenfüßen kann sie aber nichts Negatives entdecken. Schnell noch etwas Lipgloss auftragen – kann ja nicht schaden – und dann die Nägel an der rechten Hand lackiert. Bis zur After Work Party muss der Lack trocken sein.
Sabine war einfach eine Meisterin im Prioritäten setzen.

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