Veröffentlicht: 24.06.2024. Rubrik: Kinder und Jugend
Die Kirschen in Nachbars Garten
Bei Dorfkindern waren Einkäufe, bis in die 80er Jahre, angenehme Botengänge. Die Wege waren ebenso kurz wie der Einkaufszettel, schließlich wuchs und gedieh fast alles, was später auf dem Teller landete, im heimischen Stall oder Garten.
Aber wir waren Kinder, ganz normale Kinder, bei denen genau das einen magischen Reiz ausübte, was verboten war und nicht über diesen langweiligen Beschaffungsweg „Einkaufen“ oder „Garten“ zu haben war. So wie die Kirschen von Herrn Gaby. Herr Gaby wohnte allein, in einem kleinen Häuschen, am Ortsrand. Die abgeschiedene Lage passte zu ihm. Ein mürrischer Kinderschreck, der bereits schimpfte, bevor wir ihm einen wirklichen Grund dazu geliefert hatten.
Nur im Juli, wenn der große Kirschbaum neben dem Haus, voll von den leckeren, roten Früchten hing, dann musste Herr Gaby wachsam sein. Er lief geradzu zur Hochform auf, denn Herr Gaby schien sich nicht mehr von seinem Fenster wegzubewegen. Unter uns Kindern galt es als die größte Mutprobe, von genau diesem Baum Kirschen zu pflücken.
Wir dachten uns waghalsige Manöver aus: einer lenkt ab, der andere pflückt Kirschen. Die Rollen wurden ausgeknobelt, nochmals tief Luft geholt und ein Sprint in zwei entgegengesetzte Richtungen gestartet. Die Schimpftirade von Herrn Gaby folgte auf dem Fuße. Sie war so heftig, dass sie jeder Zensur zum Opfer fallen würde. Da sie uns aber nicht einschüchterte, sondern nur laut lachen ließ, ging Herr Gaby zur Verteidigungsstufe 2 über. Der kleine, drahtige Mann verschwand vom Fenster und stand plötzlich mit einem Luftgewehr in der Hand vor dem Haus. Jetzt zielte er nicht nur mit seinen Flüchen auf uns, jetzt setzte er auch noch seine Waffe ein. Ab da verging uns das Lachen. Geduckt und mucksmäuschenstill entfernten wir uns von dem Kirschbaum und Herrn Gabys Haus - bis morgen – einmal musste es doch klappen.