Veröffentlicht: 09.06.2024. Rubrik: Aktionen
Die alte Schachtel...
Schon etliche Jahre arbeite ich in einem Pflegeheim für alte und gebrechliche Menschen. Diese Arbeit verlangt mir und meinen Kolleginnen/Kollegen viel ab. Sie ist anstrengend, sowohl körperlich, als auch seelisch. Es ist nicht immer einfach, den sogenannten "professionellen Abstand" zu wahren - manches Schicksal geht einfach nahe.
Schön sind die Momente, in denen wir ein Lächeln hervor locken können, ein Späßchen machen oder gemeinsam mit den alten Menschen etwas erleben. So werden Geburtstage und andere Feiertage zelebriert und manchmal machen wir einen Ausflug. Aber immer gibt es auch die Momente der Schmerzen, der Traurigkeit, der Verzweiflung ja, des Abschieds... Von all den Bewohnerinnen und Bewohnern, die mit den Jahren gekommen und gegangen sind, ist mir eine von ihnen noch immer gegenwärtig!
Nennen wir sie hier Frau S.. Schon zu Beginn ihres Aufenthaltes bei uns war sie auf einen Rollstuhl angewiesen. Das hinderte sie jedoch nicht daran, das Haus und die Umgebung ausführlich zu erkunden. Sie hatte immer ein gutes Wort für die anderen und bot trotz ihres Handicaps Hilfe an, wo sie es vermochte. Sie war umgeben von einer ruhigen Gelassenheit, ja, ich möchte sagen, von einer Zufriedenheit.
Was mir schon zu Anfang auffiel, das war eine sehr hübsch verzierte Schachtel, die sie fast immer bei sich hatte - auf dem Schoß, in einem Netz an ihrem Rollstuhl, in einer Tasche oder auf dem Nachttisch neben dem Bett. Die Schachtel war etwas größer als eine Zigarrenkiste, von allen Seiten mit buntem Papier, Blumen und Vögeln beklebt. Mir fiel auf, dass Frau S. hin und wieder, in einem ruhigen Augenblick, die Schachtel behutsam öffnete, etwas heraus nahm, betrachtete und mit versonnenem Gesichtsausdruck wieder zurück legte...
Leider verschlechterte sich Frau S. Gesundheitszustand mit den Monaten, die vergingen, kontinuierlich und schließlich konnte sie ihr Bett kaum noch verlassen. Ein Zustand, unter dem sie verständlicherweise sehr litt. Sie verfiel in einen Zustand tiefer Traurigkeit und Teilnahmslosigkeit. Es tat weh, sie so zu sehen und wir taten unser Bestes, um sie ein wenig aufzumuntern.
Eines war ihr jedoch noch immer sehr wichtig. Jeden Abend, wenn die letzten Dinge zur Nachtruhe gerichtet waren, bat sie um ihre bunte Schachtel. Schon wenn sie diese in den Händen hielt, sahen wir ein kleines Leuchten in ihren Augen. Sie wartete, bis sie sich unbeobachtet fühlte, dann hob sie den Deckel an, wählte sorgfältig und nahm etwas heraus. Nie konnte einer von uns erkennen, was es denn wohl sein könnte!
Aber die Wirkung dieses kleinen Etwas auf Frau S. war unübersehbar! Ihr Gesicht entspannte sich, sie lächelte und ihr Blick schien in weite Ferne gerichtet. "Danke, Schwester, jetzt kann ich gut schlafen! Gute Nacht und bis morgen!" Fast etwas verschmitzt kamen ihre Worte... Ich nahm das Schächtelchen entgegen und platzierte es auf dem Nachttisch in Sehweite.
So ging es einige Wochen. Das abendliche Ritual hatte eine beruhigende Wirkung, die Sanftheit und Gelassenheit auf das Gesicht von Frau S. zauberte. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich der Neugier anheim fiel. Was mochte der Inhalt der Schachtel sein? Waren es Fotos? Waren es Schmuckstücke oder kleine Andenken? Was hatte nur diese geradezu magische Wirkung auf Frau S.? Eines Abends, so muss ich zu meiner Schmach gestehen, richtete ich es so ein, dass ich einen Blick in die Schachtel werfen konnte - just als sie behutsam geöffnet wurde...
Wir groß war mein Erstaunen, als ich erkannte, dass diese Schachtel leer war, absolut LEER! Frau S. jedoch hatte mich beim Hineinspitzen ertappt. Mit hochrotem Kopf stand ich da, währen ihr Blick mich fest hielt. "Ja, Kindchen, dies ist mein Geheimnis, mit dem es mir gelingt, alles erträglich zu machen. Allerdings, wie sie nun wissen, kann nur ich sehen, was in dieser alten Schachtel bewahrt wird. Das hat auch einen guten Grund! Wann immer ich in meinem Leben etwas sehr, sehr Schönes erlebt habe, so habe ich es in einem kleinen Edelstein oder einer bunten Perle bewahrt und in diese Schachtel gelegt. Sie begleitet mich schon seit meiner frühesten Jugend. Wann immer ich traurig, einsam verzweifelt oder nieder gedrückt vom Schmerz bin, so öffne ich sie, wähle ein Kleinod aus, betrachte es und versinke in den wunderbaren Erinnerungen, die mir Kraft geben!"
Fortan achtete ich mit großer Sorgfalt darauf, dass die kleine Schachtel niemals und zu keiner Gelegenheit verloren gehen könnte. Weitere Wochen vergingen und Frau S. wurde immer schwächer. "Das ist der Lauf der Dinge!", sagte sie, wenn ich ihr abends ihre alte bunte Schachtel reichte und sie diese entgegen nahm und mich augenzwinkernd ansah.
Dann kam dieser eine Morgen. Ich hatte wider einmal Frühdienst und mir oblag das Wecken und die Morgentoilette unserer zu Pflegenden. Ich öffnete also die Tür zu Frau S. Zimmer, sagte "Guten Morgen!" und zog die Gardinen auf. Da sah ich es. Frau S. lag reglos und mit offenen Augen im Bett. Auf der Bettdecke hielt sie eine Hand auf der geöffneten Schachtel, die sie so geliebt hatte. Rund herum auf der Decke lagen etliche kleine Perlen und Steinchen verschiedenster Größen und Farben. Sie glitzerten und funkelten in der Morgensonne, die durchs Fenster schien. Ein seliges Lächeln lag auf dem Gesicht der alten Dame. Als ich näher kam, erkannte ich, dass ein ganz kleiner bunt blitzender Stein unter das Bett gerollt war. Ich nahm ihn auf und ich steckte ihn in meine Hosentasche. Dann strich ich Frau S. sanft über das Gesicht und verließ das Zimmer. Die Routine nahm ihren Lauf.
Verwunderlich war allerdings, dass keiner meiner Kolleginnen oder Kollegen irgendwelche Perlen, Steine oder derartiges in Frau S. Bett entdeckt hatte.
Auf meine Frage, ob sie diese nicht gesehen hatten, tippten sie sich frecher Weise - aber mit einem Grinsen - an die Stirn. Ich aber habe in meinem Nachttisch seither, ganz hinten, in einem winzigen Schraubglas (ich glaube, es war mal Meerrettich darin) einen kleinen bunt schillernden Stein. Er ist meine Erinnerung an Frau S.. Wenn ich ihn anschaue, dann sehe ich sie verschmitzt lächeln und ich könnte schwören, sie nickt mir zu.
Ich habe viel von ihr gelernt!