Veröffentlicht: 18.05.2024. Rubrik: Aktionen
Erzähl mir nichts von L. (Mai-Aktion)
Ende der 90er Jahre
Ich öffnete die Augen. Verdammt, wo war ich? Meine Blicke glitten an mir hinunter. Ich lag in einem Bett, aber es war nicht meines. Das war auch nicht mein Zimmer in der WG, in der ich mit Leni zusammen wohnte. Links und rechts neben meinem Bett standen Trennwände. Ich fragte mich, was ich hier tat. Ich merkte, dass ich ein komisches Kleidungsstück trug. Sah aus wie ein Krankenhaushemd.
Dann fiel der Groschen. Gestern hatte Körbi Schluss gemacht – mein Körbi, mein geliebter Körbi. Eigentlich hieß er Korbinian, aber kein Mensch nannte ihn so. Er war bei Leni und mir in der WG gewesen. Leni hatte behauptet, sie müsse dringend einkaufen gehen und sich taktvoll verzogen. Kaum dass sie zur Tür heraus war, machte er Schluss. Er sei zu jung, um sich fest zu binden, das sei ihm nun klar geworden. Wir könnten natürlich trotzdem Freunde bleiben. Weiter kam er nicht, denn ich rannte zur Tür, riss sie auf und brüllte: „Raus! Mach, dass du rauskommst! Steck dir deine Freundschaft sonstwohin!“
Die Tür war noch nicht zu, als ich in Tränen ausbrach. Ich rannte zu unserem Medizinschränkchen, durchwühlte alles nach Schlaftabletten – und fand nichts. Dafür eine Flasche Wodka im Küchenschrank. Ich wusste noch, dass ich es geschafft hatte, ungefähr ein Viertel davon zu trinken. Ab da hatte ich einen Filmriss. Ich war hochprozentigen Alkohol nicht gewöhnt, ich trank so gut wie nie.
Eine junge Frau in einem weißen Kittel erschien am Bettende und lächelte mich an. „Guten Morgen“, sagte sie sanft.
„Guten Morgen“, brachte ich mühsam hervor. Ich hatte keine Lust, etwas zu fragen oder zu sagen. Mir war gerade mit aller Wucht bewusst geworden, dass mein Leben sowieso vorbei war – ohne Körbi.
„Wissen Sie, was heute für ein Tag ist?“, fragte die Frau im weißen Kittel freundlich.
Ich überlegte. Der Tag, an dem Körbi Schluss gemacht hatte, war Dienstag gewesen. Also war heute … „Mittwoch?“
„Richtig. Wir sind froh, dass es Ihnen besser geht.“
Was weißt du schon, dachte ich. „Wo bin ich überhaupt?“, fragte ich, weil ich merkte, dass sie auf eine Antwort wartete.
„Auf der Intensivstation im Krankenhaus Süd.“
„Wie bin ich hierhin gekommen?"
„Ihre Freundin hat Sie ohnmächtig auf dem Boden liegend gefunden, als sie nach Hause kam und den Rettungswagen gerufen. Sie wurden dann hier eingeliefert.“
Ich schloss die Augen. Ich wollte nichts mehr hören.
Das nutzte mir nicht viel. Zwar wurde ich schon am nächsten Tag auf die Normalstation verlegt, aber das volle Programm kam hinterher. Man schickte mich zum Psychiater. Meine Eltern kamen, waren erst schockiert, später kamen die Vorwürfe. Ich war froh, als sie wieder weg waren. „Wie konntest du uns das nur antun, Constanze?" Der Satz meiner Mutter hallte lange in mir nach.
Leni war zweimal da. Körbi ließ sich nicht blicken. Einmal traf ich auf dem Flur einen jungen Mann, der ihm ähnlich sah. Ich konnte nicht anders, ich musste ihn anstarren. Als Reaktion darauf lächelte er mich an. „Kann ich etwas für Sie tun?“
Ich schüttelte den Kopf. „Entschuldigen Sie, ich habe Sie verwechselt.“
„Das passiert mir öfters.“ Er lachte. „Vor allen Dingen in Zivil. Ich wollte gerade nach Hause. Ich bin Krankenpfleger."
„Ah.“ Abgesehen von dieser intelligenten Antwort brachte ich nur noch ein „Tut mir leid“ heraus, und er lachte schallend auf. „So schlimm ist es meine Arbeit auch wieder nicht.“ Er schaffte es, dass ich mitlachen musste.
Am nächsten Tag sah ich ihn wieder und erfuhr, dass er Leander hieß. Er war sehr nett und im gleichen Alter wie ich. Ich bot ihm an, mich beim Vornamen zu nennen. Er nahm das Angebot an.
Eine Woche später wurde ich entlassen.
Zu Hause umarmte Leni mich. „Wie schön, dass du wieder da bist! Alle haben mich nach dir gefragt."
„Körbi auch?"
Leni schüttelte den Kopf.
„Ist ja auch egal", sagte ich. „Er fängt sowieso mit K an."
Leni sah mich verständnislos an.
„K wie kannst du vergessen", erklärte ich. „Und das mache ich jetzt auch."
„Ein Glück, dass ich mit L anfange." Leni lachte, und ich lachte mit.
„Nicht nur du. Auch Leander aus dem Krankenhaus."
Drei Monate später begegnete Leander mir zufällig im Supermarkt. Ich stand vor dem Regal mit den Milchprodukten und konnte mich für keine Joghurtsorte entscheiden.
„Na, wenn das nicht die Constanze ist", hörte ich eine fröhliche Stimme hinter mir und drehte mich um.
„Leander", sagte ich verblüfft. Ich hatte nicht damit gerechnet, ihn je wieder zu sehen und wurde auf einmal verlegen. Der junge Mann hatte mich in meiner schwächsten Stunde gesehen, seelisch sozusagen nackt ausgezogen und körperlich alles andere als anziehend im Krankenhaushemd. Nicht geschminkt und zurechtgemacht für die Welt und die Männer. Typisch weibliche Gefallsucht ... Oder was war das,was mich jetzt so irritierte?
"Wie geht es dir?", fragte er freundlich.
"Ganz gut", sagte ich. Das war nicht mal gelogen. Die regelmäßigen Gespräche mit einem Therapeuten seit meinem Krankenhausaufenthalt hatten mir sehr geholfen.
"Das freut mich", sagte Leander freundlich. Er machte noch eine kurze Bemerkung über das Wetter, sagte, dass er am Wochenende keinen Dienst habe und sich darauf freue, etwas mit seinen Kumpels zu unternehmen.
Wir wünschten uns ein schönes Wochenende, und dann strebte Leander der Kasse entgegen. Ich wandte mich wieder den Milchprodukten zu und wartete lange genug, bis ich sicher sein konnte, dass er das Geschäft verlassen hatte. Erst danach setzte ich meinen Einkauf fort.
Auf dem Parkplatz des Supermarktes vergewisserte ich mich, dass Leander nicht zu sehen war. Das Lied von den zwei Königskindern, die zusammen nicht kommen konnten, fiel mir ein. Leander und ich konnten es auch nicht. Ich konnte ihn aus einer vergangenen Welt nicht mit in meine jetzige nehmen....
Es war eine unerwartete Begegnung, die mich damals sehr traurig stimmte.