Veröffentlicht: 05.04.2024. Rubrik: Persönliches
Mein Erdkunde-Schock
Mit zehn Jahren wechselte ich von der Grundschule auf das Gymnasium. Ich wohnte damals in einem kleinen Dorf. Meine Eltern führten ein Lebensmittelgeschäft und hatten nicht viel Zeit, sich darum zu kümmern, dass ich lernte. Bis Ende des 4. Schuljahres war das auch nicht notwendig. Ich passte zwar im Unterricht auf, aber nach der Schule lernte ich nie und schrieb trotzdem gute Noten. Alles flog mir einfach zu.
Mit Beginn des 5. Schuljahres war das vorbei. Es war ein Schock, herauszufinden, dass es nicht mehr reichte, im Unterricht aufzupassen und gewissenhaft Hausaufgaben zu erledigen. Um wirklich mitzukommen (und gute Noten zu schreiben) musste man richtig lernen - etwas, was ich bis dahin nie gemacht hatte. Aber ich versuchte es. Ich hatte mich auf interessante Fächer gefreut, die in der Grundschule nicht unterrichtet wurden, Erdkunde zum Beispiel. Ich war gespannt darauf, etwas über die große weite Welt und andere Länder zu erfahren. Sehr neugierig war ich auf den großen Atlas, der - drei Wochen verspätet geliefert, wir hatten schon einige Stunden Erdunde absolviert- zur Abholung bei dem dörflichen Buchhändler bereit lag. Ich holte ihn ab und trug ihn, platzend vor Erwartung, nach Hause.
Dort schlug ich ihn auf und traute meinen Augen nicht. Auf der ersten Seite war tatsächlich unser Dorf im Maßstab 1: irgendwas abgebildet. Und daneben die nächste, 5 km entfernte Stadt, in der ich auf das Gymnasium ging.
Ich starrte auf die Seite und konnte es nicht fassen. Ein Atlas über die große weite Welt und auf der ersten Seite war unser Dorf abgebildet! Wieso? Das stand nicht dabei. War die Welt gar nicht so groß? War unser Dorf das interessanteste auf der ganzen Welt? Meine Begeisterung für Erdkunde nahm schlagartig ab. Ich blätterte ein paar Seiten weiter, aber das half auch nicht. Ich konnte auch niemanden fragen, warum in einem großen Weltatlas unser unbedeutendes Dorf auf der ersten Seite prangte. Meine Eltern hätten mich nicht verstanden. Für sie war unser Dorf die Welt. Und in der Schule hätte man mich ob dieser Frage wohl ausgelacht.
Ich klappte den Atlas zu. Das war's. In Erdkunde brachte ich es auf eine 5. Und danach fiel Erdkunde für die nächsten beiden lSchuljahre aus.
Das Gymnasium habe ich damals nicht geschafft. Ich wechselte zur Realschule und machte dort meinen Abschluss. Immerhin hatten wir einen netten Erdkunde-Lehrer, Typ Heinz Erhardt. Er machte im Unterricht Witze und war immer gut gelaunt. So brachte ich es mit Ach und Krach auf eine 3.
Gestern habe ich mir einen kleinen Taschenatlas gekauft. Ich wollte mir mal die Welt genauer betrachten.
Und zum Glück ist auf der ersten Seite nicht das Dorf abgebildet, in dem ich damals lebte.