Veröffentlicht: 31.12.2023. Rubrik: Spannung
Guten Rutsch, Liebling - Eine Silvestergeschichte
Hennings Finger zitterten, als er zur Sicherheit noch einmal das Laufzeitende der Police kontrollierte.
31.12.2023...heute!
Er hatte also noch genau zwei Stunden Zeit, um das Biest, ohne Spuren auf Fremdverschulden, vom Balkon des Adlon zu stoßen. Vom Balkon dieser wundervollen Suite, in der sie bereits seit mehreren Jahren jede Silvesternacht verbrachten.
Sibylle präferierte es mondän. Das war nicht immer so.
Vor zehn Jahren hatte er Sibylles Leben auf fünfhunderttausend Euro versichert. Für eine solide Familienplanung. Damals waren sie glücklich verliebt und Geld spielte keine große Rolle. Ihr Besitz beschränkte sich auf gute Studienabschlüsse und Heißhunger auf das Leben.
Henning goss Wein in die großen Schwenker, während er auf Sybille, die noch duschte wartete und nachdachte.
Wann nur hatte er begonnen, Sibylle zu hassen? Als ihm klar wurde, dass sie ihm niemals Kinder schenken würde, obwohl sie es zu Beginn ihrer Ehe anders geplant hatten?
"Du musst ein völlig verblödeter Idiot sein, wenn du glaubst, dass ich mir meinen Körper ruiniere für ein undankbares Balg, dass zwanzig Jahre nichts als Ärger macht und Unsummen kostet."
Henning leerte das Weinglas in einem Zug, seine Kieferknochen malten angespannt, als er nachgoss.
Oder war es der Moment, ab dem der Geruch des Geldes sie vereinnahmte, während er immer öfter den Geruch wilden Sexualschweisses, gemischt mit dem ekelhaften "Acqua di Gio" eines anderen Kerls an ihren Dessous im Wäschekorb wahrnahm.
Henning brauchte dringend frische Luft. Er trat durch die schweren Vorhänge auf den Balkon mit der niedrigen Brüstung, die der heutigen Bauvorschrift nicht nicht mehr entsprechen würde.
Er stellte sein Weinglas auf den breiten Sims und starrte hinab auf den Gehweg. Er stellte sich Sibylles makellosen Körper vor, aufgeplatzt auf dem kalten Pflaster da unten, durch dessen Fugen ihr Blut in den nächsten Gulli rinnen würde.
Adrenalin durchfuhr sein Rückenmark angesichts der Vorstellung.
Die zweite Welle war wesentlich stärker und überrollte Henning, als er sich umdrehte und, wie aus dem nichts, Sibylle vor ihm stand. Die Schönheit mit den eiskalten Augen hatte nur ein Handtuch um ihren Körper gewickelt, das sie von den Brüsten bis über die Hüfte bedeckte. Aus den Spitzen ihrer nassen Haare tropfte es wie in Zeitlupe auf die Hartholzplanken des Balkons.
Bevor Henning die Schrecksekunde verdaut und sich neu sortiert hatte, spürte er den kräftigen Stoß gegen seine Brust. Er strauchelte rückwärts und war sich sofort bewusst, das sich der weitaus größere Teil seiner Körpermasse oberhalb der Brüstung befand, die sich knapp unter seinem Gesäß in seine Oberschenkel drückte.
Henning hatte keine Chance, er fuchtelte nach Halt und erwischte Sibylles langes Haar zwischen seinen Fingern. Das Büschel riss schmerzhaft aus ihrer Kopfhaut, bevor er Sibylle mit sich in den Abgrund reißen konnte.
Als Henning rücklings in die Tiefe stürzte, sah er noch Sibylles Geste. Sie zeigte im Wechsel auf sich und ihn und er begriff, was er übersehen hatte.
Die Lebensversicherung war damals auf Gegenseitigkeit abgeschlossen worden, somit hatte sie genau so viel Interesse an seinem Ableben, wie er an ihrem.
Henning schloss siegessicher die Augen, bevor die Straße ihn erschlug. Er wusste in dem Moment, Sibylle würde einfahren, denn er hielt ganz fest den Beweis dafür, dass sie ihn gestoßen hatte, zwischen seinen Fingern.
Das Miststück würde wegen Mordes ins Gefängnis gehen und die Versicherung würde aus demselben Grund auch nicht bezahlen.
Als sein Herz auf dem Asphalt stehen blieb, entspannte sich sein Körper. Seine Hände öffneten sich und ein kräftiger Windstoß...