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geschrieben 2023 von Stephan Heider (Stephan Heider).
Veröffentlicht: 25.12.2023. Rubrik: Menschliches


Eine Weihnachtsgeschichte

Nelly war aufgewühlt. Niemals hätte sie gedacht, dass ein Vorkommnis in ihrem Job sie emotional so zerreißen könnte. Der Weg nach Hause durch das anhaltende Schneegestöber im menschenleeren Park des Klinikgeländes gab ihr Zeit zum Nachdenken.

Als Pflegekraft im Hospizbereich hatte sie viel Leid gesehen. Menschen, die auf ihrer letzten diesseitigen Etappe dankbar waren für jede Form von zwischenmenschlicher Zuneigung.

Nelly schöpfte immer Kraft aus dieser Dankbarkeit. Die milden Blicke aus getrübten Augen. Die flüchtigen Berührungen. Faltige Finger, die stickum beim waschen oder anziehen über ihren Handrücken strichen auf der Suche nach etwas Wärme, Nähe und Trost.

Nelly war gut darin, sie hatte ein natürliches Gespür für den Moment. Konnte Stille ertragen und eine fremde Hand minutenlang voller Würde halten mit der unausgesprochen Botschaft: "Ich begleite dich, hab keine Angst."

Zwischen Edith und Wilhelm passte allerdings kein Blatt Papier. Dieses wundervolle Paar, verbunden durch ein gemeinsames Leben. Seite an Seite. Seit eh und je. Für alle Zeiten.
Wie Edith ihren Wilhelm ansah. Nelly schielte aus dem Augenwinkel immer wieder auf Ediths Blick und grübelte darüber nach, was sie Wilhelm mit ihren Augen sagte.
Ihr altersschwacher Körper hatte die Sprache verloren. Edith war fünfundneunzig Jahre alt, genau wie Wilhelm und beide hatten heute Geburtstag. Am heiligen Abend. Was für eine göttliche Fügung, dachte Nelly, als sie vor vierzehn Tagen diese Besonderheit in den Akten las.
An dem Tag als Edith auf ihre Station gebracht wurde, mit festem Blick auf Wilhelm, der neben ihrem Transportbett lief und ihre Hand hielt.

Die zwingend notwendige parenterale Ernährung in ihrem Krankheitsstadium erforderte die Verlegung auf die letzte Station der medizinischen Intensivpflege. Edith könnte zwar noch länger so leben, doch jede orale Nahrungsaufnahme würde ihr Ende bedeuten.

Nelly kämpfte sich weiter durch den Schneesturm, auf dem Heimweg zu ihrer Familie, um nach ihrer Schicht den heiligen Abend mit ihren Liebsten zu verbringen. Sie sehnte sich so stark wie lange nicht mehr danach, ihren Mann und die Kinder gleich in die Arme zu schließen.
Ihre Gedanken kreisten um die letzten vierzehn Tage, die innigen Blicke, die Edith und Wilhelm tauschten und den heutigen Vormittag, als Wilhelm unbemerkt die Klinik verlassen hatte und Edith für immer eingeschlafen war.

Sie wollte nach den beiden sehen und wunderte sich über Wilhelms Abwesenheit. Die letzten vierzehn Tage wich er Edith doch von morgens bis abends nicht von der Seite.
Dann spürte Nelly, dass Edith nicht nur schlief, sondern gegangen war. Und im gleichen Moment sah Nelly etwas auf dem Nachttisch stehen. Etwas, dass dort niemals stehen durfte. Ihre Nackenhaare stellten sich auf und sie begriff in dem Moment, was Edith Wilhelm mit ihrem Blick die ganze Zeit gesagt hatte.

"Bitte liebe mich zu Ende"

Nellys Gedanken überschlugen sich und Tränen schossen ihr in die Augen.
Das Protokoll war klar. Sie durfte nun nichts mehr anrühren und musste den Arzt anpiepen, der Ediths natürlichen Tod feststellen sollte.
Aber gewiss nicht mit dem Gegenstand im Raum, der da auf dem Nachttisch stand.
Nelly zögerte keinen Moment und informierte den diensthabenden Arzt. Gleich nachdem sie das zur Hälfte geleerte Glas Wasser vom Nachttisch genommen, zur Küche gebracht und in die Spülmaschine geräumt hatte.

Nelly verbrachte den schönsten heiligen Abend, an den sie sich jemals erinnern würde, mit ihrer Familie, obwohl sie sich wegen Behinderung einer Straftatermittlung schuldig gemacht hatte.

Am Abend fand man Wilhelms erfrorenen Körper im Klinikpark auf einer Bank sitzend.

Nelly war mittags auf ihrem Nachhauseweg an ihm vorbei gegangen, ohne es zu bemerken. Unsichtbar saß er von Schnee bedeckt auf der Bank zwischen den Sträuchern und winkte Nelly ein letztes Mal dankbar nach.

Als Nelly am ersten Weihnachtstag zur Mittagschicht kam, wie gewohnt, die Abkürzung über die Flure der angebundenen Gebäude nahm und an der Scheibe der Neugeborenen-Station vorbeilief, traute sie ihren Augen nicht.

Es hatte gestern Abend zwei Geburten gegeben. In den beiden Wiegen hinter der Scheibe schliefen wohlbehütet und seelenruhig ein Mädchen und ein Junge. Auf den Schildern an ihren Bettchen und den Bändchen um ihre winzigen Handgelenke standen Namen, die lange nicht mehr modern gewesen waren.

Edith und Wilhelm.

Nelly lächelte beseelt und fühlte in diesem Moment Weihnachten in sich, wie niemals zuvor.

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