Veröffentlicht: 29.10.2023. Rubrik: Nachdenkliches
Bestandsaufnahme
Er war noch lange nicht soweit, aber als er mir wieder begegnete hatte ich gerade so langsam aus einem langen Tal der Tränen mit schrägen Mundwinkeln zurückgelächelt in den Rest meines Lebens. Mein Kind war tot und meine Frau über alle Berge. Die stationäre psychotherapeutische Behandlung nach dem Unfall unserer Tochter neigte sich allmählich ihrem Ende zu.
Mit einem kleinen Fuß zurück im Leben, setzte ich mich im Park des Klinikums auf die Bank vor dem kleinen See, als er mir antwortete: "Hallo!"
Ich hatte garnicht wirklich gemerkt, dass ich nicht alleine war, sondern einfach automatisch "Hallo" vor mich hin gebrabbelt, bevor ich mich niederließ. Eine Höflichkeitsfloskel, immer anzuwenden bei einer Ankunft, anerzogen von meiner systemisch denkenden Mutter.
"Sorry, ich heiße Leon, wie geht es dir?", fragte ich und sah dabei weiter nach vorne auf den kleinen See, der ein Wasserspiel zur Zerstreuung von schlechten Gedanken bot.
"Beschissen!" hauchte er mit dem Qualm einer filterlosen Zigarette aus.
Gesprächig schien mein Sitznachbar auf der Parkbank ja nicht zu sein, aber anders ging es mir zu Beginn meiner Therapie ja auch nicht. Wenn ich etwas gesagt hatte, dann laut, sehr wütend und ungerecht.
"Wer bist du und was machst du hier?", fragte ich vorsichtig.
"Max...Geht dich einen Scheiss an!"
Max zog an der Kippe und schnippste sie in die Büsche.
"Also bitte, Herr Jürgens, unterlassen Sie das. Wir haben es hier gern sauber und gepflegt und die Gärtner sind keineswegs dazu da, Ihre Zigarettenstummel aus der Bepflanzung zu fischen!" Schwester Rabea hatte sich lautlos genähert, sie schob eine letargisch wirkende alte Dame im Rollstuhl um den See.
"Ist ja gut, Schwester, kommt nicht wieder vor", grummelte Max, während ich von Rabea keines Blickes gewürdigt wurde. Ich hatte es mir schon früh mit ihr verscherzt.
"Ich bitte darum", dozierte sie im Vorbeigehen, "und diese verbringen Sie bitte ordnungsgemäß ausgedrückt in den Mülleimer dort." Sie zeigte auf einen Abfallbehälter am Rand des geteerten Fusswegs. "Guten Tag, mein Herr."
"Schabracke", flüsterte Max mir zu, als sie außer Hörweite war. Ich musste losprusten, er stimmte ein und wir beide lachten herzhaft für einige erträgliche Sekunden.
"Hast du das mitgekriegt, Max, die Rabiata hat nur dir einen guten Tag gewünscht. Mich hat sie mit dem Arsch nicht angesehen. Was habe ich mich mit der Hexe schon gezofft."
"Das glaube ich dir gern, Leon", brummelte Max und steckte sich die nächste Kippe an. Er hielt mir die Schachtel hin. "Auch eine?"
"Danke, ich habe aufgehört", erwiderte ich mit einer abwinkenden Geste.
"Wunschdenken", knurrte Max und steckte die Packung in meine Hemdtasche.
Max war noch verbittert, das spürte ich. Ich erklärte:
"Als ich die Dinge weitestgehend aufgearbeitet hatte, wollte ich einen Neuanfang machen und in dem Moment Zigaretten und Alkohol nach ganz hinten packen in den letzten Winkel dessen, was ich noch brauchen könnte."
"Blabla, du hast noch ganichts aufgearbeitet, du redest dir die Dinge nur schön." Max starrte in den Himmel.
"Es tut mir leid, aber ich bin schon zu weit, um mich von dir wieder runterziehen zu lassen." Ich ließ ihn sitzen und ging.
Die Stimme fuhr mir durch Mark und Bein. "Herr Jürgens, Sie haben den Zigarettenstummel noch nicht ordnungsgemäß entsorgt", rief mir Rabea nach. Ich drehte mich zu der Parkbank um, auf der Max gerade begann, noch viel zu verarbeiten.
Sie war leer.
Rabea lächelte mild und sagte sanft: "Hat Max Sie wieder besucht, Leon? Sie werden es schaffen, aber haben sie Geduld. Wenn Max nicht mehr kommt, dann sind Sie auf einem guten Weg."
Ich hob den Stummel auf und begann in diesem Moment zu begreifen, was ich Schwester Rabea später verdanken würde. Weil sie ganz genau wusste, was ich noch vor mir hatte.