Veröffentlicht: 13.01.2019. Rubrik: Grusel und Horror
Die Silvesternacht
Das Geräusch kam von der Straße und war eindeutig zu identifizieren: ein stotternder Automotor, der nicht mehr anspringen wollte und nur noch ein paarmal aufmuckte, ehe er dann ganz erstarb. Und dann versuchte es der Fahrer noch einmal und noch einmal, als wolle er das Offensichtliche einfach nicht glauben. Evelyn unterbrach ihre Tätigkeit in der Küche - das Vorbereiten der Salate und Häppchen für die Silvesterfeier, die Richard und sie heute Abend geben würden - trat zum Fenster und spähte hinaus. Schon seit dem frühen Morgen hatte es ununterbrochen geschneit und durch die immer noch tanzenden Flocken sah sie ein Auto, das mitten auf der Straße stand und das sie nicht kannte. Evelyn kannte in dem kleinen Dorf eigentlich alle und jeden und auch jedes Auto.
"Da kann er nicht stehenbleiben", dachte sie und ging hinaus.
"Entschuldigung", rief sie, während sie auf das Auto zuging, unsicher, ob der Fahrer sie auch hörte. Doch in diesem Moment öffnete sich die Autotür und eine junge Frau mit langen blonden Haaren stieg aus. Evelyn steuerte entschlossen auf sie zu.
"Entschuldigung, aber hier können Sie nicht stehenbleiben", sagte sie resolut.
Die fremde junge Frau musterte sie, eine Spur zu aufdringlich, wie Evelyn fand und lächelte dann. Evelyn fielen ihre hellblauen Augen auf.
"Ein blondes Gift mit himmelblauen Augen", durchfuhr es sie. "Wie Dorothee." Dorothee hatte damals Richard angehimmelt, bis Evelyn diesem Treiben ein Ende gemacht hatte. Richard hatte Evelyn anschließend zwar ihre "alberne Eifersucht" vorgeworfen. Aber insgeheim, so war sie sich sicher, hatte ihm ihre Eifersucht geschmeichelt. Und Dorothee hatte ihrer beider Wege nie wieder gekreuzt.
Das hatte sie damals davon.
"Verstehe ich ja, dass das Auto hier im Weg steht", sagte die junge Frau. "Aber was soll ich machen, wenn er nicht mehr anspringt?"
"Kommen Sie mit zu uns", schlug Evelyn vor. "Wir rufen eine Werkstatt an. Und vorher schieben wir den Wagen noch zur Seite. Vielleicht ist die Batterie leer."
"Das kann eigentlich nicht sein, ich habe erst letzte Woche eine neue bekommen. Hoffentlich erreichen wir noch jemanden. Ich würde gern pünktlich zu meiner Silvesterfeier kommen." Die junge Frau starrte angestrengt auf die Motorhaube ihres Autos, als könne diese ihr Auskunft geben, ob das noch zu schaffen war.
Gemeinsam schoben sie den Wagen zur Seite, sodass er zumindest nicht mehr die Straße versperrte. Dann folgte die Fremde Evelyn ins Haus. Evelyn bot ihr einen Platz auf der Couch an, holte dann das Telefonbuch und setzte sich neben die Fremde. Sie fanden zwei Autowerkstätten in der Nähe, doch als Evelyn die erste Nummer wählte, meldete sich niemand und als sie es bei der zweiten Nummer versuchte, schnarrte ihr ein Anrufbeantworter entgegen, dass über die Feiertage geschlossen sei und man erst am 02. Januar wieder öffnen würde.
"Das tut mir leid", sagte Evelyn zu der jungen Frau.
"Verdammt", murmelte diese. "Ich wollte so gerne mit meinen Freunden feiern, wir wollten uns in einer Skihütte treffen. Was mache ich jetzt nur?"
"Das weiß ich leider auch nicht. Mein Mann müsste aber in der nächsten Stunde nach Hause kommen, er ist noch geschäftlich unterwegs. Vielleicht weiß er, was man machen kann." Evelyn stand auf. "Ich muss in die Küche, das Essen für heute Abend fertig vorbereiten, wir bekommen Gäste."
"Oh, soll ich Ihnen ein wenig zur Hand gehen in der Küche? Ach entschuldigen Sie bitte, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt." Die Fremde stand ebenfalls auf und streckte Evelyn die Hand hin. "Ich bin Annabell Kassler. Vielen Dank, dass Sie mir helfen."
"Evelyn Liebkant." Evelyn drückte kräftig die ausgestreckte Hand und registrierte mit heimlicher Freude, dass die Fremde einen Schmerzlaut unterdrücken musste.
Selbst schuld. Was musst du dich in unser Nest verirren? So jung, so hübsch, so blond?
In diesem Moment hörte sie, wie sich der Haustürschlüssel im Schloss drehte. Richard kam zur Tür herein.
"Hallo Liebling. Wir haben Besuch." Evelyn küsste ihren Mann demonstrativ ausgiebig auf den Mund und stellte ihm dann Annabell vor. Als Richard hörte, dass ihr Auto nicht mehr anspringen wollte und keine Werkstatt mehr zu erreichen war, runzelte er die Stirn.
"Ausgerechnet heute, das ist wirklich schlecht."
"Ich meinte, es sei die Batterie. Aber Frau Kassler sagte, dass sie erst letzte Woche eine neue bekommen habe."
"Sie können ruhig Annabell zu mir sagen", warf die Fremde ein und lächelte.
"Dann ist es wohl eher der Anlasser", wandte sich Richard an Evelyn. "Da kann ich leider gar nichts machen, ich bin kein Fachmann für Autos. Wo müssen Sie denn hin? Vielleicht kann ich Sie ja fahren."
"Ich wollte auf die Skihütte, aber laut meinem Navi sind das noch zwei Stunden von hier aus zu fahren, dann wären Sie hin und zurück vier Stunden unterwegs, das will ich Ihnen nicht zumuten. Und außerdem schneit es immer noch, wer weiß, wie lange die Straßen heute noch frei sind." Annabell lächelte kläglich. "Außerdem, wie käme ich dann wieder zurück zu meinem Auto? Das ist wirklich sehr nett von Ihnen gemeint, aber es geht nicht. Gibt es hier ein Hotel oder eine Pension?"
Richard verneinte. "Das ist hier ein ganz kleines Kaff, wir haben hier noch nicht einmal einen Supermarkt. Leider auch niemanden, der privat Zimmer vermietet. Ein Hotel gibt es erst in der nächsten größeren Stadt, aber das ist auch ziemlich weit von hier." Er warf Evelyn einen Blick zu und ehe sie ihm zuvorkommen konnte, sprach er weiter. "Aber ich denke, wir laden Sie ganz einfach zu unserer Silvesterfeier ein und Sie übernachten in unserem Gästezimmer."
Verdammt. Musste er auf diese blöde Idee kommen?
"Das kann ich doch nicht annehmen."
"Natürlich können Sie." Richard schaute von Annabell zu seiner Frau. "Nicht wahr, Evelyn? Sie machen uns keine Umstände. Wir bekommen heute Abend sowieso Gäste. Da können Sie mitfeiern. Und das Gästezimmer macht Ihnen meine Frau gleich fertig."
"Ja natürlich", beeilte sich Evelyn zu versichern. "Sie sind herzlich eingeladen."
Als ob mir jetzt noch etwas anderes übrigbliebe, als mitzuspielen. Aber das blonde Gift wird sich noch wundern. Die nimmt mir Richard nicht weg.
"Sagen Sie wenigstens 'Du' zu mir." Jetzt lächelte Annabell schüchtern. "Das ist wirklich sehr nett von Ihnen. Ich werde das Zimmer aber auf jeden Fall bezahlen."
"Das kommt überhaupt nicht in Frage." Richard strahlte die junge Frau an. "Aber Duzen ist eine gute Idee. Ich bin Richard."
"Ich muss mich jetzt wirklich mal um das Essen kümmern", bemerkte Evelyn mit einem säuerlichen Unterton in der Stimme, den Richard aber - wie gewöhnlich, wenn er etwas nicht merken wollte - geflissentlich überhörte.
Und außerdem hat er sowieso nur noch Augen für die blonde Schlampe.
Evelyn schäumte innerlich vor Wut, als sie in die Küche ging, ließ es sich aber nicht anmerken.
Du kannst das Spiel. Du kannst es. Verrate dich nicht zu früh.
"Wieso musst du eigentlich heute noch soviel vorbeireiten?" rief ihr Richard hinterher. "Wir haben doch die riesige Tiefkühltruhe. Da hättest du doch paar Sachen einfrieren können."
"Die ist aber schon voll", rief Evelyn zurück.
Was für ein Glück, dass ihn das nicht weiter interessiert. Und dass er nie hineinschaut.
Richard schlug Annabell vor, ihre Sachen aus dem Auto zu holen - sie würde wohl etwas für die Übernachtung dabei haben, da sie auch auf der Skihütte übernachten hatte wollen - und die beiden blieben für Evelyns Geschmack eine Spur zu lange draußen. Als sie wieder hinein kamen, hörte sie sie beide lachen und Richard schien außergewöhnlich freundlich zu sein, viel zu freundlich zu einer Frau, die er gerade erst kennengelernt hatte.
"Vielleicht hat er sie ja schon gekannt. Vielleicht ist das alles abgesprochen", schoss es Evelyn durch den Kopf, doch dann verwarf sie diese Möglichkeit wieder. Wozu hätten sie es dann nötig gehabt, sich hier unter ihren Augen zu treffen? Das hätten sie einfacher haben können. Nein, das war es nicht. Es war einfach Pech, diese Frau an Silvester im Haus aufnehmen zu müssen.
Aber wir werden noch sehen, für wen es Pech ist. Ob für sie oder für mich.
Pünktlich um 18.00 Uhr trafen die eingeladenen Gäste ein. Sie stammten alle aus dem Dorf und alle kannten die Geschichte von damals mit Dorothee. Und manch einer hatte Evelyn damals hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert, dass Richard ja "kein Kostverächter" sei und dass sie auf ihn "aufpassen" müsse. Als sie nach genaueren Angaben fragte, wollte keiner etwas sagen. Nur Georg hatte damals eine Bemerkung fallen lassen: "Einmal Gigolo, immer Gigolo. Du weißt, was ich meine." Evelyn hatte keinesfalls gewusst, was er meinte, sich aber in ihrer Entschlossenheit, Dorothee aus dem Weg zu räumen, bestärkt gesehen. Nun, das hatte ja auch geklappt.
Und es wird wieder klappen. Auf jeden Fall.
Sie stellten Annabell als "Überraschungsgast" vor. Die Geschichte mit dem Auto war schnell erzählt. Annabell hielt sich anschließend diskret im Hintergrund und ansonsten hauptsächlich an Richard. Niemand stellte neugierige Fragen, bis auf Georg natürlich, der Evelyn in die Küche folgte, als sie eine neue Flasche Wein aus dem Kühlschrank holte.
"Was habt ihr euch denn da ins Haus geholt?" fragte er augenzwinkernd und lächelte ihr zu. "Könnte mir gefallen, die Kleine."
"Du kannst sie gerne mitnehmen". Evelyn schlug die Kühlschranktür mit etwas mehr Schwung zu als nötig gewesen wäre.
"Ach was, ich will Richard doch nichts wegnehmen." Georg prustete jetzt laut los. "Aber ich muss schon sagen, wie er das immer wieder anstellt, ist sagenhaft."
"Er hat gar nichts angestellt."
"Jaja, genau wie mit Dorothee damals. Na, hat sich ja aus dem Staub gemacht, die gute Dorothee. Ich wüsste gerne mal, wo sie jetzt ist."
Ich weiß es. Aber da kommst du nie drauf. Und ich verrate es bestimmt nicht.
Georg klopfte Evelyn auf die Schulter. "Mach nicht so ein Gesicht, die da verkrümelt sich auch wieder. Richard weiß doch, was er an dir hat. Ist halt ein Mann. Du weißt doch, wie Männer sind, jedenfalls solche wie Richard ... ein kleines Abenteuer ab und zu muss mal drin sein. Und nun ja - bisschen jünger als du ist die Kleine ja schon, also knackig und so...da kannst du ihm doch nicht übelnehmen, dass er den zweiten Frühling spürt."
"Verschwinde aus meiner Küche", sagte Evelyn eisig. "Was fällt dir eigentlich ein? Ich glaube, du hast einfach zu tief ins Glas geschaut."
"Ich geh ja schon". Georg erhob sich schwankend. "War vielleicht ein ganz kleines Glas zuviel ...." Dann schlurfte er mehr als dass er ging aus der Küche. Evelyn schaute ihm hinterher. Sie empfand eine seltsame Mischung aus Wut und Befriedigung. Wut über Georgs unverblümte Bemerkungen und Befriedigung darüber, dass er ihre Meinung damit bestätigt hatte.
Also ist es auch anderen aufgefallen, dass er dem blonden Gift schöne Augen macht. Ich hatte recht.
Um 24.00 Uhr fielen sich alle in die Arme, prosteten sich zu, wünschten sich ein frohes Neues Jahr, lachten und redeten durcheinander. Evelyn hatte es so eingerichtet, dass sie allen Gästen auf einem Tablett gefüllte Sektgläser reichte. In ein Glas hatte sie ein starkes Schlafmittel geschüttet und dieses zuerst Annabell angeboten.
"Stoßen wir auf das Neue Jahr an", sagte sie mit einem liebenswürdigen Lächeln. Annabell nahm das Glas und prostete ihr zu. "Ich muss aufpassen, dass ich nicht zuviel trinke", sagte sie, "ich bin das gar nicht gewohnt. Sonst trinke ich kaum Alkohol."
"Aber schlecht ist dir nicht, oder?" fragte Evelyn. Es gelang ihr sogar, ihre Stimme besorgt klingen zu lassen.
"Nein, ich werde nur ziemlich müde. Als wäre ich schon uralt." Annabell lachte.
Klingt wunderbar. Schlafe, du dummes Ding, schlaf ein.
Schon eine halbe Stunde später verabschiedete sich Annabell. "Es tut mir leid, aber ich kann die Augen kaum noch offenhalten. Vielen Dank, Sie waren wunderbar zu mir, Sie und Ihr Mann."
Vor allen Dingen mein Mann, wolltest du wohl sagen.
Um 2.00 Uhr verabschiedeten sich die letzten Gäste. Aufatmend warf sich Evelyn ihrem Mann in die Arme.
"Das wäre geschafft!"
"Ja." Richard strich ihr über das Haar. "Das hast du wunderbar gemacht, es war eine schöne Party. Gehen wir jetzt auch ins Bett."
Im Bett kuschelte Evelyn sich an Richard und wartete, bis ihr seine regelmäßigen Atemzüge verrieten, dass er eingeschlafen war. Auch ihm hatte sie ein Schlafmittel, wenn auch ein leichteres, in einem Glas Sekt verabreicht. Sie stieg leise aus dem Bett und schlich zum Gästezimmer hinüber. Den Schlüssel hatte sie vorausschauend schon gestern Mittag abgezogen. Sie drückte die Klinke nieder und huschte ins Zimmer. Annabell schnarchte laut - Alkohol und Schlafmittel taten ihre Wirkung - und Evelyn brauchte sich noch nicht einmal Mühe zu geben, leise zu sein. Sie näherte sich dem Bett, nahm das zweite Kopfkissen, das neben Annabell lag und drückte es ihr aufs Gesicht.
Das hast du jetzt davon, du Flittchen.
Als Annabells Glieder erschlafft waren, packte Evelyn die Leiche und zerrte sie hinüber in die Küche und von dort aus in den Nebenraum, wo die große Tiefkühltruhe stand. Sie klappte den Deckel auf und sah emotionslos auf Dorothees Leiche.
Du kriegst Gesellschaft. Ein Flittchen neben dem anderen.
Über diesen Gedanken musste sie unwillkürlich kichern. Dann legte sie Annabells Leiche schön säuberlich daneben.
Am nächsten Tag stand sie lange vor Richard auf und bereitete ihm das Frühstück zu. Als er gegen elf Uhr erschien und fragte, warum sie nicht für Annabell mitgedeckt habe, zuckte Evelyn bedauernd die Achseln.
"Sie ist schon seit zwei Stunden weg. Sie hat sich ein Taxi gerufen und gesagt, sie wolle uns nicht länger zur Last fallen. Aber sie würde sich nochmal melden, wegen ihres Autos."
"Sie ist schon weg? Schade, ich hatte den Eindruck, dass sie gerne noch länger geblieben wäre."
Ich auch. Aber eigentlich ist sie ja auch noch hier.
Evelyn lächelte ihrem Mann zu. "Sie wird uns schon nicht vergessen."
Und dann servierte sie ihrem Mann seine Frühstückseier mit Speck und freute sich auf den Feiertag, alleine mit ihm.