Veröffentlicht: 08.12.2018. Rubrik: Menschliches
Das Brautkleid
Der Laden in der Südlichen Straße hatte auf alle Fälle die schönsten Brautkleider in der ganzen Stadt. Nicht zum ersten Mal stand Helena vor dem Schaufenster und drückte sich beinahe die Nase an der Scheibe platt. Aber heute war es doch noch etwas anderes. Sonst hatte sie sich die Brautkleider zwar sehr interessiert angesehen, jedoch nie daran gedacht, tatsächlich einmal hineinzugehen, um eines anzuprobieren. Aber seit gestern war sie eine Braut! Gestern hatte sie tatsächlich einen Heiratsantrag bekommen, den ersten ihres Lebens! Sie hatte nun jedes Recht, selbstbewusst den Laden zu betreten und sich ein Kleid auszusuchen, in dem Bewusstsein, dass sie es tatsächlich bald brauchen würde! Sie stellte sich den Dialog mit der Verkäuferin vor.
"Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?"
"Guten Tag, ich heirate in drei Monaten und würde mir gerne ein Brautkleid aussuchen!"
"Herzlichen Glückwunsch! Wir haben gerade gestern eine neue Kollektion bekommen, da sind einige Kleider dabei wie für Sie gemacht!"
Ja, genauso würde es laufen. Vorfreude erfüllte Helena und zwar so große Vorfreude, dass sie auf einmal keine Lust mehr verspürte, tatsächlich in den Laden zu gehen und sich damit um ihre Vorfreude zu bringen. Es hatte ja schließlich noch Zeit. Sie schaute sich das Schaufenster noch eine Zeit lang an, dann lief sie vergnügt nach Hause.
Am nächsten Tag stand sie wieder vor dem Schaufenster. Und am übernächsten ebenfalls. Und jedes Mal stellte sie sich den Dialog mit der Verkäuferin vor.
"Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?"
"Guten Tag, ich heirate in drei Monaten und brauche ein Kleid!"
"Herzlichen Glückwunsch!"
Bis dahin lief der Dialog in ihrer Vorstellung immer gleich ab, dann variierte er jedes Mal.
Beispielsweise sagte die Verkäuferin nicht: "Wir haben gerade gestern eine neue Kollektion bekommen", sondern: "Unser erster Einkäufer war gestern in Paris und hat ein zauberhaftes Modell mitgebracht. Das müssen Sie unbedingt anprobieren" und dann stellte Helena sich vor, wie sie das Modell aus Paris anprobierte, die Verkäuferin, der erste Einkäufer, der in Paris gewesen war und vielleicht noch ein paar andere Angestellte um sie herumstanden und alle sagen würden, wie gut sie in dem Kleid aussehen würde. Und von Mal zu Mal lief sie danach vergnügt nach Hause.
Die Wochen vergingen und nach wie vor stand Helena jeden Nachmittag vor dem Schaufenster und stellte sich den Dialog mit der Verkäuferin vor, nur dass sie sich jetzt gezwungen sah, auch ihren ersten Satz im Dialog abzuändern: "Guten Tag! Ich heirate in zwei Monaten und würde mir gerne ein Brautkleid aussuchen" , dann wurde noch später daraus: "Guten Tag! Ich heirate in einem Monat und würde mir gerne ein Brautkleid aussuchen". Schließlich wurde aus dem einen Monat eine Woche, dann war von der Woche nur noch ein Tag übrig und am nächsten Tag sollte die Hochzeit sein. Helena hatte allen vorgeschwindelt, dass sie das Brautkleid schon längst hätte, es aber keinem zeigen wollte. Aber heute musste sie es wohl endlich besorgen, wenn sie es zu ihrer Hochzeit anziehen sollte. Wir schon so oft stand sie vor dem Geschäft und spähte ins Schaufenster. Dann ging sie zum Eingang, legte die Hand auf die Klinke und wollte die Tür aufstoßen, zögerte jedoch. Schließlich ließ sie die Klinke wieder los und nahm ihren Platz vor dem Schaufenster wieder ein. "Nie wieder", schoß es ihr durch den Kopf. "Nie wieder hier stehen und die Vorfreude verspüren. Nie wieder."
Entschlossen zückte sie ihr Handy.
"Georg? Es tut mir leid - ich kann dich nicht heiraten. Ich muss die Hochzeit absagen."
Ohne Georgs Antwort abzuwarten, legte sie auf und wandte sich wieder dem Schaufenster zu.
Nun würde sie so viel Zeit haben, wie immer sie wollte.