Veröffentlicht: 24.12.2018. Rubrik: Historisches
Weihnachten mit Hugo
Diese Geschichte gehört zu einem Geschichtenkranz rund um "Matze, das Findelkind" (nicht chronologisch geschrieben. Matze taucht als Baby und als Jugendlicher auf sowie handeln einige Geschichten von seinen Adoptiveltern, noch ehe sie ihn bei sich aufnehmen):
Dazu gehören folgende, auch hier eingestellte Geschichten:
Matzes Mutter
Das Findelkind
Brigitte
Ergebnisse liegen vor
Hugos Freundin
Heiligabend 1975
"He, Roter!"
Matze blieb auf der Straße stehen und sah sich um. Resigniert bemerkte er, dass er richtig gehört hatte. Hugo hatte ihn bei seinem Spitznamen, den er seinem roten Haarschopf zu verdanken hatte, gerufen. Hugo war der Anführer ihrer Clique und als "harter Hund" bekannt. Ausgerechnet heute, am Heiligabend, hatte er keine Lust, sich mit Hugo abzugeben. Schon gar nicht, wenn er daran dachte, welchen Auftrag er für seinen Vater erledigen sollte. Wenn Hugo davon erfuhr, hätte er keine Gelegenheit, diese Sache zu umgehen, denn für Hugo würde er dann für alle Ewigkeit als "Weichei" gelten.
Hugo kam mit einem breiten Greisen herangeschlendert. Er trug eine rote Mütze mit einem großem Bommel auf dem Kopf und einen knallroten Schal, der im leichten Wind flatterte. Ob er wollte oder nicht, Matze drängte sich der Vergleich mit dem Nikolaus mit seinem knallroten Umhang auf und er musste unwillkürlich grinsen.
"Was gibt's, Roter, wo gehst du hin? Musst du noch Geschenke für deine Alten besorgen?"
Matze schüttelte den Kopf. "Die habe ich schon alle. Sind auch schon alle eingepackt."
"Ist so ein richtiges Spießerweihnachten bei euch, ne? Mit Tannenbaum, Geschenken und alle singen "Stille Nacht", bis es kracht, was?" Hugos Grinsen wurde noch breiter.
"Kann schon sein. Ist mir aber nur recht. Weihnachten ist die einzige Zeit im Jahr, wo mein Vater nicht mit mir meckert."
"Und wo gehste jetzt hin? Hab ich dich übrigens eben schon gefragt."
"Zum Bauernhof." Matze antwortete so knapp wie möglich, aber noch während er es sagte, war ihm schon klar, worauf das Gespräch hinauslaufen würde.
"Und was sollst du da?"
"Was abholen."
"Was denn, Roter? Sag mal, kannste auch mal mehr als zwei Worte sagen?"
"Ich soll ein Kaninchen abholen", gab Matze widerwillig Auskunft.
"Tot oder lebendig?"
"Lebendig. Der Bauer dort schlachtet die Kaninchen nicht selbst. Ich soll es dann zum Schlachthof bringen und wenn es fertig ist, nach Hause." Allein beim Gedanken daran drehte sich Matze der Magen um, aber er zwang sich, seine Stimme so gelassen wie möglich klingen zu lassen.
Hugo pfiff vergnügt vor sich hin. "Als Weihnachtsbraten? Mal was anderes. Weißt du was, ich komm mit."
Matze sank das Herz bis zu den Knien. Wenn Hugo dabei war, konnte er das Kaninchen nicht unterwegs freilassen, wie er es eigentlich vorgehabt hatte, obwohl er noch nicht wusste, wie er seinem Vater erklären sollte, dass das Kaninchen verschwunden war. Aber das spielte jetzt sowieso keine Rolle mehr. Wenn er das Kaninchen aus Mitleid laufen ließ, würde Hugo ihn auslachen und er wäre für alle Zeiten bei ihm untendurch.
Nach einer Viertelstunde, in der Matze kein Wort sagte und Hugo seltsamerweise auch nicht, hatten sie den Bauernhof erreicht. Auf Matzes Klingeln hin öffnete eine rundliche Frau und sah ihn fragend an.
„Ich bin Matze Kender. Ich soll für meinen Vater ein Kaninchen abholen."
"Für Herbert Kender? Kostet zwanzig Mark."
Matze bezahlt, die Frau bedankte sich, verschwand dann und kam mit einem großen Karton, aus dem ein Rascheln und Kratzen zu hören war, zurück.
"Das ist unser größter, er heißt Kalle", lachte sie. "Da ist schön viel Fleisch dran."
Sie gab Matze den Karton. Er schaute hinein und sah ein großes braunes Kaninchen, das ihn verschüchtert anblickte. Er konnte nicht anders und streichelte es.
"Das ist wirklich groß", bemerkte Hugo.
"Ja, wie gesagt, unser Größter. Da wird eine Familie von satt. Also dann, frohe Weihnachten!"
"Frohe Weihnachten", echoten die beiden Jungen und machten sich dann auf den Rückweg.
"Schon komisch", bemerkte Hugo, "da geht das Vieh zum Schlachter und ahnt nichts Böses."
Matze schwieg.
"Gut, dass wir keine Kaninchen sind, was Roter?" Hugo knuffte ihn scherzhaft in die Seite, rempelte dabei gegen den Karton und da passierte es: Der Karton rutschte Matze durch den unerwarteten Schubs aus den Händen auf den Boden, das Kaninchen purzelte heraus und lief dann im Zick-Zack davon.
"Mensch, Alter - das ist futsch. Und deine zwanzig Mark auch."
"Ja, verdammt", sagte Matze, der nicht ganz glauben konnte, was gerade passiert war. Hatte Hugo tatsächlich absichtlich so fest gegen den Karton gestoßen, damit er diesen fallen ließ und das Kaninchen entkommen konnte? Ausgerechnet Hugo, der harte Hund?
"Mensch, Roter, das war keine Absicht."
Jetzt wusste Matze, dass es genau das gewesen war.
"Was sag ich jetzt meinem Alten?"
"Kannst ja sagen, ich wäre es gewesen." Hugo hatte wieder sein Grinsen aufgesetzt.
Sie legten den Rest der kurzen Strecke schweigend zurück und verabschiedeten sich dann mit Handschlag.
"Also Roter, dann feier mal dein spießiges Weihnachtsfest mit deinen Alten. Ich seh dich an Silvester."
"Geht klar."
Zuhause erzählte Matze dann, was passiert war. Zu seiner Erleichterung schimpfte sein Vater tatsächlich nicht.
"Deine Oma war gerade da und hat uns eine Gans mitgebracht", sagte er stattdessen. "Wir haben also einen fetten Braten. Nur ärgerlich, dass die zwanzig Mark futsch sind. Wie ich diesen Hugo kenne, hat er das extra gemacht. Er will doch ständig Leute ärgern."
Matze schwieg darauf.
Aber er war sicher, dass Hugo diesmal einen anderen Grund gehabt hatte.