Veröffentlicht: 04.11.2023. Rubrik: Aktionen
Redkäppi (November-Aktion / Märchen)
Es war einmal ein Wolf, der lebte in einem tiefen, dunklen Wald. Damit es etwas freundlicher wurde, hatte er sich die Mühe gemacht, am Wegesrand und auf einer kleinen Lichtung Blumen anzupflanzen. Ja es kam sogar so weit, dass er anfing, bestimmte Sorten zu züchten, vor allem solche, die weithin hell strahlten und die Düsternis der Tannen verscheuchten. Der Wolf war sehr stolz auf seinen Waldgarten und die anderen Tiere dankten es ihm.
Eines Tages, als er gerade wieder einmal die Beete inspizierte und sich an der Blütenpracht erfreute, hörte er ein klirrendes Geräusch näherkommen. „Nicht schon wieder“, stöhnte er. Denn er wusste genau, woher das Scheppern kam: Redkäppi war im Anmarsch.
Redkäppi war das 12jähriges Mädchen aus dem Bauernhof gleich vor dem Wald. Manchmal wurde sie von ihrer Mutter zu ihrer Großmutter geschickt, die jenseits der Blumenlichtung des Wolfes in einer kleinen Kate hauste.
Und schon kam das Mädchen um die Wegbiegung. Ihre Beine waren in blaues Tuch gekleidet, das mit vielen Löchern, Fransen und Ketten verziert war. Die klirrten bei jedem Schritt unangenehm.
Auf dem orangefarbenen T-Shirt, das sie trug, war in fetten schwarzen Buchstaben ein Spruch zu lesen: „I’m the kind of kid my mother wouldn’t want me to play with“. Der Wolf wusste genau, was das hieß: „Ich bin die Art von Kind, mit dem meine Mutter mich nicht spielen lassen würde.“ Dem konnte er nur voll zustimmen. Seine Kinder hielt er wohlweislich von dieser Göre fern.
Auf dem Kopf hatte sie ein rotes Baseballkäppi mit dem Schriftzug „COOL“ verkehrt herum aufgesetzt, die darunter herauslugenden Haare leuchteten in Pink.
Redkäppi schimpfte vor sich hin: „Wieso muss immer ich zur Großmuuuhh latschen? Könnte das nicht einmal wer anderer machen? Die alte Frau ist soooo anstrengend. Und jetzt ist sie auch noch krank. Was ich dort soll? Putzen vielleicht?“ In diesem Tonfall ging das schon eine ganze Weile, sie stampfte immer wieder mit dem Fuß auf und ließ dabei die Ketten an ihren Hosenbeinen misstönend klirren.
Voller Wut kickte sie mit dem Fuß einer der Strahleblumen des Wolfes das Köpfchen ab, das im hohen Bogen in den Wald segelte. Darauf hatte der Wolf nur gewartet. Sein Herz tat ihm weh bei diesem groben Mord an seinen Lieblingen. Ahhh, das schien die Wut in Redkäppi
etwas zu lindern und sie begann, sich einen Spaß daraus zu machen, eine Blüte nach der anderen mit dem Fuß rechts und links vom Weg ins Gebüsch zu schießen.
Das war aber gar nicht im Sinne des Wolfes. Er trat zwischen den Bäumen hervor und stellte sich dem Mädchen in den Weg.
„Hey, was bist denn du für ein Köter? Davongelaufen, ha? Lass mich ja in Ruhe! Hau bloß ab!!“
Redkäppi riss sich ihre rote Baseballkappe vom Kopf, sodass die pinkfarbenen Haare in alle Richtungen wegstanden, und fuchtelte dem Wolf vor der Schnauze herum.
Der hatte sowieso schon eine gewaltige Wut auf dieses lästige Kind, also schnappte er zu, entriss ihr die Kappe und lief damit schnurstracks in den Wald hinein.
„Ja spinnst jetzt du?“, schrie Redkäppi und setzte dem Wolf nach, so gut und schnell sie mit ihrer schlapprigen Hose laufen konnte
„Gib sofort mein Käppi wieder her!!“ Der Rucksack, in dem sie eine Flasche Rotwein und einen Marmorkuchen für die Großmutter transportierte, hüpfte auf ihrem Rücken hin und her und die Flasche schlug ihr unangenehm an die Rippen. Aber das war ihr egal. Das Käppi musste wieder her.
Irgendwann, als er sie genug hatte rennen lassen, ließ der Wolf die Kappe fallen und verschwand hinter den dicken Baumstämmen. Redkäppi sah sich um und erkannte, dass sie ganz schön weit in den Wald hinein gelaufen war und dass es wohl einige Zeit dauern würde, bis sie von hier aus zur Großmuuhh kam.
Der Wolf war inzwischen zu seiner Blumenlichtung gelaufen, um dort schon bereit zu stehen, wenn die Göre antanzte. Denn sie würde gewiss auch hier wieder ihr mörderisches Blütenköpfchen-Abhack-Spiel treiben.
Wie er so dastand und voller Wehmut seine Blumenkinderchen betrachtete, denen es gleich an den Kragen gehen würde, stand plötzlich eine alte Frau vor ihm. Es war Redkäppis Großmutter. Der Wolf kannte sie gut, denn sie wohnte ja gleich hinter der Blumenwiese, aber Großmama hatte den Wolf noch nie gesehen. Er hatte das wohlweislich immer vermeiden können. Jetzt, da sie so unvermittelt des Raubtieres ansichtig wurde, öffnete die Alte den Mund, um zu schreien, um Hilfe zu rufen. Aber kein Laut entströmte ihren Lippen, stattdessen wurde sie bleich im Gesicht, schwankte und fiel steif wie ein Brett um.
Da erschrak der Wolf auch sehr, denn was sollte er jetzt machen? Gleich würde Redkäppi hinter einem der Bäume hervorkommen und die Großmutter tot da liegen sehen. Außerdem hatte er seit Tagen nichts Nahrhaftes mehr zwischen den Zähnen gehabt. Die Frau war ja sowieso tot, also konnte er sie genauso gut auch verspeisen. Er hatte ja nicht viel Zeit, also stürzte er sich auf den leblosen Körper und verschlang ihn in einem Happs, ohne auch nur einen Bissen davon zu kauen. Ein Märchenwolf kann so etwas!
Und schon keuchte Redkäppi heran. „So ein Mist, jetzt bin ich doppelt so lange unterwegs gewesen! Aber wenigstens hatte ich etwas zum Trinken dabei ... hahaha .. wieso sollte die Großmuuhh den Wein alleine saufen, he? Hey, gibt’s hier viele Blumen ... Und dieser blöde Wolf hat mir die Kappe feucht gemacht mit seinem Sabber! So eine Sauerei ..!“, schimpfte sie und begann, ganz wie es der Wolf vorausgesehen hatte, mit ihren Stiefelspitzen die Blumen zu traktieren.
Da konnte der Wolf nicht mehr an sich halten und voller Ingrimm stürzte er sich auf das Mädchen.
Bevor Redkäppi auch nur ahnte, was ihr bevorstand, hatte er sie schon mit einem großen Schnapp und ohne zu Kauen verschlungen. Da er das ja gerade mit der Großmutter geübt hatte, war es ihm nicht schwer gefallen, die Aktion an einem lebenden Menschen zu wiederholen.
Allerdings war sein Bauch jetzt so voll, dass er auf den Boden hing und der Wolf kaum noch laufen konnte. Aber das war auch nicht so schlimm, denn er wusste einen wunderbaren Platz, an dem er sich niederlassen und die überreiche Mahlzeit verdauen konnte: Das Bett der Großmutter.
Der Wolf hatte nämlich schon öfter bei ihr durchs Fenster gelugt und sie beneidet um diesen Schlafplatz, der so gemütlich, warm und weich aussah. Jetzt war die Gefahr, dort erwischt zu werden, gebannt und er konnte es sich einmal so richtig gut gehen lassen. Er schleppte sich also etwas mühsam zur Kate und kroch, ebenfalls nur mit Mühe, in das Bett der alten Dame. Dort schlief er sogleich ein, denn nach einem üppigen Essen braucht der Körper ja bekanntlich Ruhe. Und wie das so ist mit vollgefressenen Wölfen, fing er fast gleichzeitig an zu schnarchen. Chhhhhhrrrrrrrrr...ppppffffff ... chhhhhhrrrrrr ... ppppfffff ... chhhhhhhrrrrrr ... pppppfffff ... so ertönte es in schöner Regelmäßigkeit aus dem offenen Schlafzimmerfenster der Großmutter. Chhhhhhrrrrrr ... pppfffff ...chhhhrrrrr ... ppppffff ... chhhhhrrrrr ... pppppfffff ... chhhhhrrrrr ..
„Ja was ist denn hier los? Wer schnarcht denn da so grässlich? Das kann doch gar nicht sein, dass die Großmutter hier am helllichten Tag so tief schläft und dabei soooo laut schnarcht!“ Das war der Jäger, der in diesem Wald im Moment Dienst hatte und auf Inspektionsgang war. Er schaute durch das Fenster in den düsteren Raum hinein, konnte aber nichts erkennen. Also schritt er um das Haus herum, betrat es durch die Vordertür und ging dem verdächtigen Geschnarche nach. Vor dem Bett angekommen sah er, da er ein geübter Jäger war, natürlich sofort, was passiert war.
Er hatte schon das Gewehr im Anschlag, als ihm siedend heiß einfiel, dass er einmal eine Geschichte gehört hatte, wo die vom Wolf verschlungenen Menschen lebend geborgen hatten werden können. „Ach ja, genau, so muss ich es machen!“, rief er, holte sich das große Schlachtmesser aus dem Messerblock in der Küche und schnitt dem schlafenden Wolf den Bauch auf, als ob er ein Hühnchen tranchieren wollte.
Gott sei Dank hatte er diesen Einfall gehabt, denn Großmutter und Redkäppi quollen ihm entgegen. Er zog beide heraus, Redkäppi war gleich wieder auf den Beinen, die Großmutter jedoch musste erst mit Mund-zu-Nase-Beatmung wiederbelebt werden. Ihr Gesicht zeigte auch bald wieder die gewohnte, vom vielen Rotweingenuss hervorgerufene rote Farbe und sie setzte sich auf.
„Was ist denn passiert?“, fragte sie verwundert, „Ich kann mich an gar nichts mehr außer den Anblick eines Wolfes erinnern!“ „Ja dieser Wolf, der mich auf dem Weg zu dir so erschreckt und in den tiefen Wald gelockt hat!“, schrie Redkäppi erbost. Sie hielt es überhaupt nicht für nötig, sich beim Jäger für die gelungene Rettung zu bedanken, sondern fuhr mit ihren wüsten Beschimpfungen fort. „Gut, dass dieses Vieh jetzt tot ist!“, war ihr Schlusssatz, dann musste sie endlich mal Luft holen.
Nun kam auch der Jäger wieder zu Wort: „ Das ist überhaupt nicht gut, du nichtsnutzige Göre! Was glaubst du denn, was ich hier im Wald noch zu tun hätte, wenn es keine Wölfe mehr gäbe? Da wäre ich gleich meinen Job los und in meinem Alter krieg ich nicht so schnell woanders einen bei der heutigen Wirtschaftslage! Außerdem atmet der Wolf ja noch! So, ihr beiden Damen, als Dank dafür, dass ich euch hier aus dem Schlund des Raubtieres gerettet habe, werdet ihr jetzt den Wolfsbauch wieder zunähen, damit der Kerl am Leben bleibt!“
Und das taten sie dann auch. Anschließend wurde der Wolf in die Tierklinik gebracht, damit alles seine Richtigkeit hatte und er wirklich wieder gesund wurde. Denn ohne ihn wäre der Jäger heute arbeitslos.
ENDE