Veröffentlicht: 28.10.2023. Rubrik: Menschliches
Heidi räumt auf
Ihre Hände, zur Faust geballt, stemmen sich in ihre runden Hüften. Heidi steht in ihrem Garten, neben der Laube und schaut auf einen Haufen voller Bretter, Balken und Bohlen, Kanten, und Winkel, wo sich eigentlich ein Raum befinden sollte. Diesen kann sie aber kaum noch betreten und sie denkt sich: Der Garten spiegelt das Wesen einer Person wieder, wie sie lebt. Was fällt mir als erstes ein, wenn ich meinen Garten sehe? – Vollgemüllt und zugestellt! – Egal ob ich damit die überwuchernden Pflanzen auf den Beeten meine, oder die Laube. Alles voller angefangener und nie zu Ende gebrachter Aufgaben. Sie seufzte. Auf einmal packt sie eine Wut, die sich aber auch - verwunderlicherweise - nach Lebensenergie anfühlt. Zuerst räumt sie nur die Bretter von einer Seite auf die andere. Geht mal in ein Beet und sticht Überwucherndes ab. Dann geht sie wieder zurück in die Laube. Nach kurzer Zeit hält sie inne, richtet sich auf und überlegt: Was mache ich hier eigentlich?!? Und sie weiß: Es wird Zeit. Vor einem Jahr zog es auch den Jüngsten in eine andere Stadt an die Uni. Letzten Herbst ist ihr Mann gestorben. Die vergangenen Monate verlebte sie wie in Trance. Sie funktionierte, um ihr Überleben zu sichern. Ein Gartenjahr ist vergangen, ohne dass sie sich um ihren Garten gekümmert hat. Und auch nicht um ihre Seele. Sie wollte nicht spüren, wie traurig und voller Angst sie ist. Doch jetzt ist die Zeit gekommen. Sie wird in ihrem Garten aufräumen. Und in ihrer Seele auch. Sie würde außen anfangen. Vom Zaun bis in die Laube. Zunächst befreit sie die Beete vom Unkraut und kürzt zu groß geratene Pflanzen ein. Dabei entdeckt sie jede Menge Lücken. Lücken, die den Garten leer wirken lassen. Der Anblick schmerzt sie. Auf der anderen Seite denkt sie: Was den Garten schadet, kommt raus. Was ihn heilt und für mich wohl duftet, kommt rein. Meinem Leben schadet es, dass ich den ganzen Tag meine Zeit vor dem Fernseher und auf Social Media Seiten vertreibe. Diese Stille aus flatternden Blättern und ruhig im seichten Wind rauschenden Bäumen tut mir unglaublich gut. Für ihr Leben denkt sie die fliegenden Bilder und kreischenden Musikfetzen der Social Media Seiten kommen raus. Ihre ursprünglich geliebte Gartenarbeit, ein gutes Buch und ihr Notizbuch nebst Füller kommen (wieder) rein. Nun kann sie sich an ihren riesigen Haufen an Kram machen. So viel Kram! Baumaterial für bestimmt 4 oder 5 „Projekte“ wie ihr Holger immer sagte. Die Bohlen waren für einen Weg im Rasen gedacht. Sie macht daraus ein 6-eckiges Beet auf der Rasenfläche, das aus 6 Dreiecken besteht. Die Bohlen sind weg. Aus 4 Europaletten baut sie einen neuen Komposter. Manche Holzplatten bemalt sie zu je einem Gemälde. Der alte Stuhl ohne Sitzfläche bekommt eine Schüssel reingedrückt und wird bunt mit wetterfester Farbe bemalt, ins Beet gestellt und bepflanzt. Ein kleines Kunstwerk im Garten ward geschaffen. Denkt sie und strahlt in sich hinein. Den Rest bringt sie Schubkarre für Schubkarre zum Sperrmüll. Mit jeder Schubkarre sprengt sich auch eine Eisenkette in ihrem Herzen und sie fühlt sich etwas freier. Am Ende dieses Gartenjahres - es ist wieder Herbst - blickt sie auf einen gepflegten Garten und in eine glänzende Küche, in der sich nur noch die Küchenzeile, ein Sessel, ein Stuhl und ein Tisch befinden. Jeglicher Kram ist entsorgt. Nur noch die Utensilien, die sie wirklich verwendet, sind verstaut, der Bibliotheksausweis aktualisiert und der Bleistift gespitzt. Sie denkt und fühlt: tabula rasa! Meine Seele ist frei. Sie kann neu beschrieben werden – von mir.