Veröffentlicht: 21.11.2022. Rubrik: Menschliches
Eine Preußin in Leipzig
Selbstverständlich bin ich keine Preußin. Ich bin nur in Berlin aufgewachsen. Im Berlin der 90er Jahre. Die Zeit, in der prägte, dass nichts mehr so ist, wie es war. Was war zählte nicht mehr. Was ist, wussten wir noch nicht, denn wir hatten nicht die leiseste Vorstellung von dem, was kommt. Chaotische Jahre. Erstmal galt es Spaß zu haben. Spaß haben war etwas, das ich nicht durfte. Denn hatte ich Spaß, hatte ich irgendeine Verpflichtung vergessen und dafür wurde ich verprügelt. Das war mein Maß aller Dinge. Ich war ja auch noch ein Kind. Auch wenn ich das schon nicht mehr zu jeder Zeit wahr haben wollte.
Nun schreiben wir das Jahr 2007. Oktober 2007. Am heutigen 9. Oktober jährt sich die letzte Montagsdemo in Leipzig zum 18. Mal. Und ich bin dabei. Es ist das erste Mal, dass ich die Montagsdemos bewusst wahrgenommen habe. 1989 war ich noch viel zu jung. Meine Eltern hatten sie ignoriert. Normalerweise verschwand, was sie ignorierten. 2007 ist es für mich etwas ganz Besonderes, an dieser Erinnerung teilzunehmen. Es ist dunkel und nach dem Sonnenuntergang ist es schon ziemlich kühl geworden. Die warmen Jacken haben wir schon ausgepackt und angezogen. Wir fahren zum Augustusplatz und schauen mal, was uns da erwartet. Mein Mann hat auch keine Vorstellung von den Montagsdemonstrationen. Am Augustus Platz herrscht eine feierliche und aufgeregte Stimmung. Viele Menschen schauen, wo sie sich anstellen sollen, andere treten von einem Fuß auf den anderen, Mütter und Väter beruhigen ihre Kinder oder teilen ihnen mit, warum sie hier sind. Wir schauen uns auch um, wo es die Kerzen gibt. Dann geht es los. In einem langsamen, riesigen Tross geht es schwerfällig in den Spaziergang um den Innenstadtring. Jeder trug ein Teelicht in einem Gläschen und der Innenring wird umrundet. Ein Lichtermeer oder besser ein Lichterfluss, der sich langsam im Kreis bewegt und am Ende zu einer 89 geformt wird. Ich hätte ihn gerne von oben gesehen, den gelb-leuchtenden Feuerring. Riesengroß. Sanftes Licht am dunklen Abend. Mir kommt es sehr ruhig vor, obwohl so viele Menschen unterwegs sind. Ich sehe staunende Kinderaugen, während sich der Junge an den Ohren seines Vaters festhält. Die Mutter weist auf die Kirchen hin. Eine nach der anderen. Von ihnen aus gingen die Aufrufe zur Demonstration. „Die Leipziger müssen aber sehr gläubig sein.“ Dachte ich so bei mir. Sie haben ihre eigene Meinung, die sie auch vertreten. Es gelang ihnen sogar, die eigene Regierung zu Fall zu bringen. „Das war und ist bestimmt ihr Glaube an Gott, durch den sie so ein starkes Rückgrat behalten konnten.“ ist mein erster Gedanke, wenn ich hier und jetzt die feierliche Stimmung aufnehme. Ich staune genauso wie das Kind auf Papas Schultern schräg vor mir. Aufgewachsen im Regierungsbezirk Berlin-Pankow hatte es mein Rückgrat sehr schwer. Es brach wohl schon in meinen ersten Kindertagen. Irgendetwas in mir wollte aber einfach nicht klein beigeben und sich zerstören lassen. Es revoltierte einfach dadurch, dass es blieb. Erst viel später sollte ich erfahren, dass Leipzig eine sehr atheistisch geprägte Stadt ist. Und die Leipziger wollten genauso wenig einen Regierungssturz wie die Berliner. Sie wollten einfach verreisen – und wiederkommen - dürfen. Sagte mir die Museumswärterin von Stasi-Museum „Runde Ecke“ in Leipzig.