Veröffentlicht: 27.09.2023. Rubrik: Persönliches
Ach, bist du ...
Familienfeier ... puuhh ... ein Wort, das in mir immer einen lästigen Beigeschmack hervorruft. Schon als Kind habe ich diese Pflichtveranstaltungen gehasst.
„Ach, ist das die kleine Petra? Bist du aber groooooß geworden!“
Jede Tante, die als nächste zur Tür herein kam, konnte diesen Spruch auswendig. Wo sie ihn nur alle gelernt hatten? Stand so was in den Zeitschriften, die sie immer lasen, die mit den Prinzessinnen vorn drauf? Oder vielleicht in den Romanheftchen? Komisch war nur, und das brachte mich bis zu einem gewissen Alter wirklich durcheinander, dass ALLE ihn sagten. Wie kamen die bloß drauf?
Wenn sich dann die Aufregung der ersten Begrüßung gelegt hatte und die Unterhaltungen zwischen den Tanten, Onkeln und meinen Eltern sich ausbreiteten wie das Gesumme in einem Bienenstock, war ich vergessen. Sie wussten einfach nicht mehr, dass ich auch noch da war.
Ja, auch das war jedes Mal dasselbe: Ich saß dabei, leise, bescheiden, bewegte mich möglichst wenig, DAMIT sie meine Anwesenheit vergaßen. Und dann hörte ich es:
„Wie alt ist die Petra jetzt? Waaas? Da ist die Tochter meiner Nachbarin aber viel größer! Das Mädel ist recht klein für sein Alter und so schmächtig!“
Man sollte es nicht für möglich halten, vor zehn Minuten war ich noch soooo groß gewesen, jetzt war ich plötzlich zuuu klein für mein Alter.
Ich beobachtete dann immer die Reaktionen meiner Mutter. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich deutlich ab, dass sie gerne ein größeres Kind gehabt hätte, eines, das was hermachte. Aber so musste sie sich die Kommentare ihrer älteren Schwestern anhören. Auch ihr Bruder, der Onkel Simon, gab seine Ansichten zum Besten, immer ironisch, sarkastisch, sodass ich gar nicht mehr entscheiden konnte, ob er es nun ernst meinte oder nicht.
Dafür mochte ich ihn auch nicht leiden. Es war kein Hass, nein, nur vermied ich es tunlichst, in die Lage zu kommen, mich mit ihm unterhalten zu müssen.
Meine Mutter tat mir Leid. Im Laufe des Nachmittags sackte sie immer mehr in sich zusammen. Ihre Schultern hatte sie hochgezogen, wie um sich vor Schlägen zu schützen, und doch hingen sie gleichzeitig nach vorne. Ihr Kind, ihre Tochter, auf die sie stolz sein wollte, die sie ihrer Familie auch mit Stolz präsentiert hatte, wurde als untauglich abgestempelt.
Großvater war einssiebenundachtzig gewesen, Onkel Berts Urgroßonkel hatte bei den Langen Kerls gedient, jeder konnte irgendeine Geschichte beisteuern, wie groß die Menschen in unserer Familie schon immer gewesen waren. Ohne Ausnahme.
Irgendwann hörten sie dann auf, „Ach bist du aber grooooß geworden!“ zu mir zu sagen, wenn wir uns wieder einmal auf einer Familienfeier trafen.
Dann sehnte ich mich direkt danach, denn die Abwesenheit dieses Satzes zeigte mir, dass ich endgültig mit dem Wachsen aufgehört hatte und so bleiben würde wie ich war: zu klein für mein Alter.
Das einzige, was sie sich nun zuraunen, ist: „Ach hat die Petra aber zugelegt, die war doch immer so schmächtig. Wer hätte das gedacht!“
Mittlerweile beklagen sich meine Kinder bei mir über die Äußerungen ihrer Großtanten und Großonkel, wenn wir uns zu einer Familienfeier treffen: „Immer sagen sie ‚Ach bist du groß geworden’ und das hasse ich!“ Es stimmt, sie sagen es immer noch. Nicht mehr zu mir, aber zu meinen Sprösslingen.
Und heute, bei der Feier zum 80sten Geburtstag einer Tante, zu der wir uns im Hinterzimmer eines netten Landgasthofes zusammenfanden, ertappte ich mich selber dabei, als ich die Zwillinge meines Cousins begrüßte: „Ach, seid ihr aber groß geworden!“
(Zu meiner Entschuldigung sei hinzugefügt, dass sie mir seit dem letzten Treffen wirklich über den Kopf gewachsen waren.)