Veröffentlicht: 23.09.2023. Rubrik: Persönliches
Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Am 30. Juni dieses Jahres verstarb meine liebe Mutter im Alter von 93 Jahren. Nur wenige Wochen später verstarb Milan Kundera, der berühmte tschechische Schriftsteller, so wie sie Jahrgang 1929.
Milan Kundera war schon immer der Lieblingsautor meiner Mutter gewesen und während er erst 1975 nach Frankreich flüchtete, emigrierte meine Familie bereits 1969 nach Deutschland. Der Alltag in der Tschechoslowakei der 60er Jahre war mühsam und meine Eltern arbeiteten viel, um uns ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Für Quality Time mit der Familie blieb kaum Zeit. Trotzdem hat es meine Mutter immer irgendwie geschafft, ihre spärliche Freizeit mit einem guten Buch zu verbringen. Wir lebten zu fünft in einer 2-Zimmer Wohnung. Es gab nur ein Schlafzimmer, mein großer Bruder schlief auf dem Wohnzimmersofa, gleich neben dem großen Bücherschrank.
Schon bald nach unserer Ankunft in Deutschland wurde meine Mutter Mitglied im Bertelsmann Club und las sich zunächst durch die deutsche Belletristik, um ihre Sprachkenntnisse zu erweitern. Die meisten Bücher gab sie dann fast unzensiert an mich weiter. Ich war erst zwölf oder dreizehn, ließ Kinderbücher und Jugendliteratur links liegen und tauchte begierig ein in die spannende Welt der Erwachsenen, obwohl ich meist nur die Hälfte verstand. Meine Mutter erklärte mir die Unterschiede zwischen Literatur, Kitsch und Schund und nahm sich immer die Zeit, meine Fragen zu beantworten. Mein Schulweg war lang, ich verbrachte viele Stunden im Zug, aber mit dem richtigen Buch im Schulranzen verging die Fahrt wie im Flug. Später zwang mich meine Mutter, auch tschechische Bücher zu lesen, weil sie den Eindruck hatte, dass mir meine Muttersprache langsam entglitt. So schufen wir im Laufe der Jahrzehnte unseren eigenen kleinen Bücher-Club und ließen die Bücher innerhalb unserer Familie von Hand zu Hand wandern.
Letzte Woche war ich dann wie immer unterwegs zu meinem Sprachkurs an der Abendschule, als ich den Büchertisch an der Rezeption entdeckte. Da hatte wohl jemand seinen Bücherschrank ausgeräumt – „zu verschenken“ stand auf einem Pappschild. Ich hatte schon ewig kein gebundenes Buch mehr gelesen, bin aus praktischen Gründen seit vielen Jahren mit meinem E-Book verwachsen, aber ich blieb trotzdem kurz stehen, um den Bücherstapel zu sichten. Und da lag dieses Buch, hatte wohl die ganze Zeit auf mich gewartet – Kunderas „Unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, die Ausgabe von 1990.
Daheim stürzte ich mich gleich in die Lektüre, ließ die Seiten andächtig durch meine Finger gleiten und dachte dabei an meine alte Heimat und an meine Mutter. Dankbar.