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5xhab ich gern gelesen
geschrieben von Sandra Z..
Veröffentlicht: 27.11.2022. Rubrik: Unsortiert


Go East

Zehn Jahre nach der Wende beschlossen mein Mann und ich, unseren Urlaub in Ostdeutschland zu verbringen. Einige Jahre zuvor hatte uns meine Mutter ein großes Kanu aus Glasfaser geschenkt mit viel Platz für unsere kleine Familie und die komplette Ausrüstung. Unsere Probefahrten auf dem Altrhein waren recht unbefriedigend verlaufen und bald stand für uns fest, größere Gewässer müssen her! Unsere Wahl fiel auf die Mecklenburgische Seenplatte und da wir beide noch die in Ostdeutschland gewesen waren, hielten wir es für eine gute Idee, auch gleich unseren Horizont Richtung Osten zu erweitern. Unsere Tochter war nicht ganz so begeistert von dieser Idee, aber jetzt waren mal die Eltern dran! Ich kramte den Schulatlas unserer Tochter hervor, um mich ein wenig mit den neuen Bundesländern vertraut zu machen. Schon auf den ersten Blick wurde mir klar: ganz schön viel Wasser in Meckpomm! Die weitere offline-Recherche gestaltete sich schwierig. Beim Fremdenverkehrsamt forderte ich Kartenmaterial an und die Kontaktdaten von verschiedenen Kanu-Clubs. Schließlich einigten wir uns auf Neustrelitz als Ausgangspunkt für eine einwöchige Kanu-Rundreise. Nach achtstündiger Autofahrt erreichten wir den Wassersportverein Neustrelitz. Hier konnten wir unser Auto für eine Woche abstellen und für eine Nacht unser Zelt aufschlagen. Eine Mitarbeiterin nahm uns in Empfang und versorgte uns mit weiteren wichtigen Informationen. Bevor wir in unser Zelt krochen, blieb noch etwas Zeit, um die Innenstadt in Augenschein zu nehmen. Diese war recht überschaubar und lud nicht unbedingt zum Shoppen ein. Die verrußten Fassaden kannten wir schon aus unseren Fahrten in die Tschechei. Baustellen überall - der Metzger hat „Soljanka“ im Angebot - was das wohl ist?
Am nächsten Morgen heißt es „Leinen los!“. Wir pflücken das schwere Kanu vom Autodach und verstauen unser Gepäck sorgfältig in den Seitenwänden: 1 Igluzelt, 3 Schlafsäcke, 3 Matten, 2 Campinghocker, ein paar Handtücher, Kleidung zum Wechseln und den üblichen Kleinkram, alles verpackt in wasserfesten Seesäcken. Die wichtigsten Utensilien werden in einer kleinen Plastiktonne verstaut. Wir lassen das Kanu zu Wasser und es schwimmt einwandfrei! Unsere Tochter bekommt den Platz in der Mitte, mein Mann übernimmt das Steuer und überlässt mir den vorderen Sitzplatz. Es dauert eine Weile, bis wir unsere Paddelbewegungen synchronisiert haben, aber dann läuft´s! Wir sind noch keine 200 Meter vom Ufer entfernt, als ein leichter Nieselregen einsetzt und unsere Tochter empört ausruft: „Ich will wieder nach Korsika!“ Danach ist erstmal Funkstille, aber schon bald stimmt das Kind ein fröhliches Lied an: „Ey, ab in den Süden! Der Sonne hinterher... Sommer, Sonne, Sonnenschein...“
Für den ersten Tag auf See haben wir uns nur eine kurze Strecke vorgenommen. Die erste Schleuse passieren wir ohne Schwierigkeiten und erreichen am Nachmittag den ersten Campingplatz. Nach einer heißen Duschen marschieren wir zum nahegelegenen Gasthaus. Dort gibt es deftige Hausmannskost – zwei Gerichte zur Auswahl! Am nächsten Morgen Schlangestehen am Kiosk, im Angebot: abgepacktes Brot, Käse und Wurst. Kaffee gibt es auch, aber nur kannenweise. Ich frage den Campingwart nach dem Preis. Er grinst mich an und fragt zurück: „Was wollen Sie denn dafür bezahlen?“. Ich gebe ihm fünf Mark und er scheint zufrieden. Der zweite Seetag wird ein wenig anspruchsvoller. Das Kind hat sich in sein Schicksal gefügt und fischt gelangweilt Vogelfedern und allerlei Treibgut aus dem Wasser. Mein Mann und ich haben nach anfänglichen Kompetenzstreitigkeiten zu einem angenehmen Paddelrhythmus gefunden, lassen uns zwischendurch einfach treiben und genießen die Natur. Für die vorbeiziehende Landschaft hat unsere Tochter überhaupt keinen Sinn. Die Sonne ist zurückgekehrt und taucht die Wasseroberfläche in ein grelles Licht. Die Seeufer sind dicht bewachsen mit Schilf und Seerosen und wirken wie vom Landschaftsgärtner angelegt. Enten und Schwäne kreuzen unseren Weg. Über uns kreisen Störche und Adler auf Futtersuche. Insekten gibt es in rauen Mengen. Einige FKK-Kanuten sind auch unterwegs. Die Freikörperkultur hat ja im Osten Tradition, sagt mein Reiseführer. Unsere Tochter ist peinlich berührt und hält sich die Augen zu. Eine tiefe Stille senkt sich über uns. Mit jedem Paddelschlag dringen wir tiefer ein in dieses Gemälde aus Blau- und Grüntönen und entfernen uns immer weiter von der Hektik unseres Großstadtlebens. Das Paddeln wird zur Nebensache, meine Gedanken reißen sich los, schweifen ab, schweben dem Horizont entgegen.
Als wir den Mirower See erreichen, kommt Wind auf, ein Gewitter ist im Anzug. Der Campingplatz ist schon in Sichtweite, aber wir müssen jetzt einen Zahn zulegen, wenn wir noch trocken ankommen wollen. Der Gegenwind wird immer stärker, mein Rücken schmerzt und auf meiner Handfläche bildet sich eine fette Blase. Schwarze Wolken ziehen auf und eisige Kälte kriecht an meinen nackten Beinen hoch. Für einen Kleiderwechsel ist jetzt aber keine Zeit. Nach zwei Stunden Turbopaddeln erreichen wir das rettende Ufer. Mein Mann zieht das Boot ans Ufer und beginnt mit dem Entladen. Ich bleibe sitzen, spüre meine Beine nicht mehr und starre apathisch vor mich hin. Plötzlich steht ein wildfremder Mann vor mir. Er reicht mir seine Hand und reißt mich aus meiner Lethargie: „Schöne Frau, Sie sehen so unentschlossen aus, darf ich Ihnen beim Aussteigen behilflich sein?“ Am ganzen Körper zitternd und zähneklappernd wate ich ans Ufer und erklimme mit letzter Kraft einen Sandhügel, auf dessen Gipfel sich die Rezeption befindet. Der Platzwart schiebt das Anmeldeformular über den Tresen. Minutenlang starre ich auf das Papier und versuche den Sinn der Worte zu erfassen: Anmeldung, Datum, Name.... Anmeldung, Datum, Name... Weiß einfach nicht, was ich hinschreiben soll.
In der Zwischenzeit haben mein Mann und das Kind das Zelt aufgebaut und freuen sich auf eine heiße Dusche. Die Blase an meiner Hand hat sich mit Blut gefüllt. Mein Mann zückt sein Schweizer Taschenmesser, macht einen sauberen Schnitt und umwickelt meine Hand mit Isolierband. Der Campingplatz ist gut besucht. Auf einem überdachten Ponton wird Equipment aufgebaut. Dort soll heute Abend ein Konzert stattfinden. Das Essen in einer nahegelegenen Gaststätte weckt wieder unsere Lebensgeister. Bei unserer Rückkehr ist das Konzert schon in vollem Gange. Als der Regen immer heftiger wird, verziehen wir uns ins Zelt. Die Band spielt einfach weiter. Mein Mann und das Kind fallen sofort in Tiefschlaf. Ich liege noch eine Weile wach, die Musik ist einfach zu laut. Jetzt spielen sie Citys „Am Fenster“ – der Regen trommelt hart gegen das Zeltdach, wetteifert mit dem Stakkato der Violine. Wehmütig denke ich an meine Abi-Abschlussfahrt nach Berlin und das Karat-Konzert auf der Waldbühne.
Nach sieben Tagen in der Wildnis kehren wir zurück in die Zivilisation – irgendwie tiefenentspannt und doch voller Elan. Nur widerwillig verabschieden wir uns vom Wassersportverein Neustrelitz und begeben uns auf die lange Heimreise. Der dichte Autoverkehr und mehrere Staus holen uns peu a peu auf den Boden der Tatsachen zurück. Als ich am Montag im Büro einlaufe, kann ich mich nicht mehr erinnern, wie mein Chef mit Nachnamen heißt...

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von ehemaliges Mitglied am 27.11.2022:

Schön beschriebene Reiseeindrücke, Sandra. "Go East" hat wohl etwas Spezielles in Euch ausgelöst. Allein das viele Wasser und die wenigen Menschen können es nicht gewesen sein; so etwas gäbe es auch in Westdeutschland, vielleicht nicht unbedingt auf dem Altrhein. Eure Tochter kann ich verstehen: Korsika ist ein attraktives Reiseziel. Grüße, Horst.




geschrieben von Christelle am 27.11.2022:

Spannend geschrieben! Was anfangs nach Stress aussieht, hat sich wohl doch noch zu einer erholsamen Reise entwickelt. Wie sonst hättest du den Naamen deines Chefs vergessen können?




geschrieben von Sandra Z. am 28.11.2022:

Vielen Dank, Horst! Das war wohl der erholsamste Urlaub meines Lebens :-)




geschrieben von Sandra Z. am 28.11.2022:

Vielen Dank, Christelle! War so schön, mal den Kopf freizukriegen. Leider kann man nicht permanent mit leerem Kopf herumlaufen *lol*




geschrieben von Onivido kurt am 29.11.2022:

Habe gerne mitgepaddelt.Gruesse///Onivido




geschrieben von Gari Helwer am 30.11.2022:

Sehr unterhaltsam beschriebener Reisebericht, Sandra! Die schmollende und peinlich berührte Tochter sehe ich vor mit... LG

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