Veröffentlicht: 02.07.2023. Rubrik: Persönliches
In der Gewissheit, nie mehr die Sonne zu sehen
Bis in meine Grundschulzeit waren Schulausflüge rar. Als wir, die 'geburtenstarken Jahrgänge' in die Grundschule kamen, waren wir zweiundvierzig Kinder in einer Klasse. Mit so einer Horde hat es sich die Lehrerin schon fünfmal überlegt, ob sie sich einen Ausflug antat. Danach unterrichtete uns der Rektor Oberhofer, dem seine Schulleitung vorging. Mein allererster Ausflug unternahm unsere Religionslehrerin Frau Heimerl mit uns, sie hat sich unserer erbarmt. Wir wanderten über Felder zu einem bedeutsamen Wallfahrtsort, wovon ein Foto in meinem allerersten eigenen Fotoalbum zeugt. Die zwei Lehrerinnen habe ich geknipst, auf einer Bank sitzend, Frau Heimerl uns Kindern mit Brille vorlesend, die wir um sie herum im saftigen Gras unsere Brotzeit verschmausten. Nur die Uli Grabinger, das einzige dicke Kind unter uns Erstkommunikanten, hatte sich mit dicken Backen zwischen die Pauker gepflanzt; so ist es auf dem Foto verewigt.
Ein späteres Foto zeigt meine Schulfreundin auf den Mauern des Römerkastells Abusina, zu dem uns Viertklässler ein Bus hingebracht hatte. Einen braunrot gemusterten Stoffmantel hat sie an, in der Länge 'Midi', wie es damals, kurz nach der Minimode, modern war. Wahrscheinlich war der gesamte Jahrgang mit dem Bus an die Donau gefahren. Deshalb durften wir mit, weil der Herr Rektor somit unbehelligt blieb und daheim in seinem Dienstzimmer weiterregieren konnte. Für mich war diese Busfahrt ein großes Erlebnis, ließen mich meine Eltern doch nie mit jemand anderem wegfahren, nie. Außerdem arbeitete mein Vater bei der Bahn, sodass wir stets mit dem Zug fuhren, der für uns ermäßigt war.
So kam ich zu meiner ersten Busfahrt. In der römischen Geschichte hielten wir uns jedoch nur kurz auf, denn als Hauptattraktion wartete das Schulerloch auf uns. Beim Schulerloch handelt es sich um eine große Tropfsteinhöhle, deren Eingang sich mitten im waldigen Hochufer der Altmühl befindet. Fledermäuse gab es darin, gruselig düster war es, modrig und finster. Tageslicht kam keines ins Innere. Die Fledermäuse nisteten im dämmrigen Eingangsbereich, flogen bei Nacht aus und überwinterten dort. Höhlenmenschen sollen es sich einst dort bequem gemacht haben, aber nur vorne. Weiter innen, im totalen Finstern, schien es keine Lebewesen gegeben zu haben.
Mich beeindruckt es immer, wenn es an einer begehbaren Stelle unserer Landschaft keine Tiere gegeben hat. Pflanzen waren im kalten Innern, in so einem dunklen Loch auch keine mehr zu finden, nicht einmal mehr Flechten. Aus meiner Sicht konnten dort, inwendig im unbehaglichen Stein, keine Lebewesen fortdauern, hundertprozentig keine Tiere. Vielleicht hatten uns das auch die Lehrer erzählt an diesem Ort? Soviel also zu meinem ersten, großen Schulausflug, soweit zur Schule.
Meine Eltern unternahmen mit uns durchaus gerne Wanderungen und Tagestouren, meistens in die von meinem Vater heißgeliebten Berge, ins Voralpenland, das schon. Als wir Kinder älter wurden, mein Bruder und ich, ach was sag ich, von wegen älter, als wir soweit waren, dass wir pubertär ein wenig aufmüpfen konnten, forderten wir abwechslungsreichere Fahrten ins Hohe Gebirge, in die Stubaitaler Alpen, nach Südtirol. In richtige Höhen, wo keine Bäume mehr wuchsen. Mein Vater wäre beinahe dran gestorben, doch wir bestanden darauf.
Ab da wurde unser Bergsteigen interessanter. Einmal fanden wir rote Edelsteine im Fels, natürliche Granate, zufällige Splitter in einer Felsmure. Ein andermal trafen wir auf ein Hochmoor, das wir auf schwankenden Torfinseln durchquerten. Schließlich besuchten wir auf unser Drängen bevor wir nach Hause fuhren eine tiefe Höhle, eine viel tiefere als das Schulerloch. Wasserläufe rannen rauschend durch Felsspalten, sammelten sich in einem Becken in einem unterirdischen See. Die Taschenlampe leuchtete auf das Wasser, doch da huschte etwas vorbei, schlammfarben, etwas Graues, ein Viecherl so ähnlich wie eine Eidechse. Wollte sich am Felsen verstecken, was ihm nicht gänzlich gelang, sodass wir es bestaunen konnten. Es hatte keine Augen, war blind und wie gesagt, geradezu farblos. Ein Grottenolm war das, ein Tier das keine Augen mehr hatte. Die Natur hatte tatsächlich ein mir unheimlich anmutendes Wesen in die Tiefen der Felsenhöhle verschlagen, verbannt. Wohin die Kreatur, sich dem Lauf der Evolution fügend, auch hinging in der Gewissheit, nie mehr die Sonne zu sehen. Wahrscheinlich hätte die Sonne ihm geschadet, so pigmentlos wie es war, ohne Augenlicht. Gerade wohl schien sich das unscheinbare Geschöpf zu fühlen, inmitten seiner der kalten, steinigen Umwelt. Immer noch verblüfft mich die Erinnerung an sein Erscheinen in diesem rauen, kalten, unwirtlichen Gebirgsinnern.
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Ja, den gibt es wirklich:
Der Grottenolm (Proteus anguinus) ist ein dauernd in Larvenform in Höhlengewässern lebender europäischer Schwanzlurch. Diese Gattung bildet zusammen mit den nordamerikanischen Furchenmolchen die Familie der Olme. Ähnlichkeiten zum Grottenolm finden sich außerdem bei einigen höhlenbewohnenden Lungenlosen Salamandern. (Wikipedia)