Veröffentlicht: 21.06.2023. Rubrik: Persönliches
Unterwegs im Internet
So ewig ist es eigentlich nicht her, aber gefühlt wie eine Ewigkeit. Meine damals pubertäre Tochter wünschte sich zum fünfzehnten Geburtstag ein Handy, bald darauf einen Internetanschluss. Wie alle anderen Mütter in unserem kleinbürgerlichen Großstadtvorort befürchtete ich Schlimmstes. In der Tat chattete unsere Lisa-Marie wild in der Gegend umher, erzählte uns von irgendwelchen Stars, Sängern aus einer Boygroup, die mit ihr parliert hätten. Unsere elterliche Fürsorge lenkte uns vorübergehend von unseren Eheproblemen ab; doch eben nur vorübergehend, ich ließ mich trotzdem scheiden. Froh darüber, die Last des nichtsnutzigen Ehemanns nicht mehr ertragen, weder Sportschau, noch sämtliche anderen Fußballspiele im Fernsehen anschauen zu müssen, ging ich meinem Alltag nach mitsamt seiner mir wichtigen Freizeitbeschäftigungen. So spielte ich weiterhin auf meinem Akkordeon, besuchte regelmäßig eine Angehörigengruppe der Anonymen Alkoholiker, wo ich fatalerweise hingehörte, und tirilierte mit Eifer in einem Kirchenchor.
Ungeachtet dessen kamen meine von Fürsorge erfüllten, halbwüchsigen Kinder nach einiger Zeit auf die Idee, so ginge es nicht weiter mit mir. Ich müsse mal rauskommen aus meiner Tretmühle, mal neue Leute kennenlernen, in ein moderneres Umfeld hineinwachsen, so wie sie, die sich längst im Internet auskannten. Ich ließ mich anstecken und überzeugen von ihrer Idee, meine Kleine setzte sich sogleich mit mir vor den PC. „Gesellschaft, Gemeinschaft“ googelte sie, der PC zeigte Communities an: „Also, da haben wir es ja schon“, lautete ihr Kommentar und schon war ich angemeldet. Das Chatten machte mir von Anbeginn Spaß, es lief gut, ich versank allabendlich vor dem Bildschirm. Bald erfuhr ich, dass es sich bloß um ein dreiwöchiges Probe-Abonnement handelte. Also googelte ich, nunmehr selbständig, das Wort „Community“ und landete bei Weave.de. „Stell dir vor, sie hat sich selbständig angemeldet, sie hat das ganz alleine geschafft“, rief meine Doris ihrer Schwester begeistert zu, was für ein Lob!
Seit vielen Jahren kurve ich nunmehr in Chaträumen herum, einer meiner allerersten Chatpartner ist mir bis heute als treuer Freund geblieben. Nach und nach habe ich mich etwas mehr getraut, der Chat wurde mir lieb und teuer. Alle möglichen Chaträume waren nicht mehr sicher vor mir. Alte Schulfreunde habe ich ausgegraben auf einer entsprechenden Plattform, und ja, sogar auf der einen oder anderen Partnerbörse habe ich mich umgeschaut, auf Männerprofilen herumgestöbert, herumgeschnüffelt, wie es im Internetjargon heißt, und ja, so manche waren verheißungsvoll.
Ich muss allerdings zugeben, dass es ganze zwei Jahre gedauert hat, bis ich mich traute, mir auf so einem Single-Portal eine Premium-Mitgliedschaft zu erwerben, mit der ich auch kommunizieren konnte. An meinen allerersten Chat dort erinnere mich noch ganz genau. „Du bist mein erstes Opfer. Gerade eben habe ich meine erste Premium-Mitgliedschaft erstanden“, konnte ich endlich auf das sympathischste und interessanteste Anschreiben antworten. Micha hieß er und lachte mir entgegen: „Da bist du ja an den Richtigen gekommen!“ Dass er ein Professioneller sei, schrieb er. Der muss recht gewiehert haben am anderen Ende der Leitung auf meine Frage, was für eine Profession er denn ausübe? Schonend hat er mir beigebracht, dass er seine Brötchen als Callboy verdient. Eine Zeitlang habe ich mit ihm geschrieben, weil er so außergewöhnlich nett und freundlich war, weil sich der Chat mit ihm jedes mal lustig gestaltete, sodass ich meine reine Freude daran hatte. Bis er auf die Idee gekommen ist, dass er mit seinen Terminen alleine nicht mehr Schuss käme, und mich, die damals große Geldsorgen plagten, doch als Sekretärin anstellen könnte. Er konnte es gar nicht lassen, mir dieses Angebot zu unterbreiten, und mir meine diesbezüglichen Aufgaben nahe zu bringen. Ein reiner Bürojob sollte es sein, zusätzlich zu meiner Teilzeitarbeit in meinem schwierigen Beruf ausübbar, ganz nebenher, nicht belastend. Bloß, als er dann anfing, es zu den Aufgaben seiner Sekretärin zu erklären, seinen Strip mit ihm einzustudieren, fühlte ich mich dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen. Leider, kann ich a posteriori da nur sagen, leider. Es war zweifelsohne das heißeste Angebot das mir je ein zukünftiger Arbeitgeber unterbreitet hat.