Veröffentlicht: 25.03.2023. Rubrik: Unsortiert
Die Versuchung
Langsam schritt er auf die Steilkante zu. Über ihm tiefblauer Himmel, nur von einem Kondensstreifen entweiht, unter seinen Füßen der heiße Sand, käferdurchhuscht. Einen Schritt vor der Kante blieb er stehen, fasziniert von der Wucht des Anblicks. Tief unten der felsige Strand, gischtumtost, dahinter unbegrenzte Ferne über glitzender See – keine Erinnerung an die Zivilisation störte die Sicht – nur Weite, Weite, endlose Weite. Da, ein Schrei, von Trauer gesättigt, voll Verzweiflung –
Er blickte hoch. Eine Möwe, über dem Meer, einsam kreisend, himmelnah. Auf eimal erfasste ihn der unbändige Drang, sich zu ihr emporzuschwinggen, ihr sein Leid zu klagen, wie sie ihm ihres klagte, denn gemeinsames Leid lässt sich leichter ertragen.
Er breitete die Arme aus, trat näher an die Steilkante heran. Die Versuchung war stark. Ein Schritt nur ... Was konte schon passieren? Er war ja bereits in luftiger Höhe, sozusagen auf halbem Wege. Und wenn er zu kurz sprang . . . Eine Qual weniger auf der Welt ... Schon beugte er die Knie, setzte zum Sprung an, blickte noch einmal nach oben – da waren jetzt zwei Möwen, sich eng umkreisend, wie zwei Geliebte. Er ließ die Arme sinken und richtete sich wieder auf. Sie wird mich nicht mehr anhören wollen, dachte er und kehrte um.