Veröffentlicht: 08.03.2023. Rubrik: Unsortiert
Fenster 2
Im Stadtteil Rotes Feld steht ein Gebäude mit bunten Glasfenstern, ein alter wuchtig-roter Kasten aus der so genannten Gründerzeit, ein Gymnasium. Über dem Portal steht mit goldenen Lettern:
Bonus intra, melior exi.
Die Fenster sind breit, hoch, im Schlossformat und mit gerippten Säulen. Sie strahlen gelassene Würde aus, vermischt mit einem Schuss Eitelkeit, und dazu, das muss ihnen der Neid zugestehen, ein Quäntchen Weltoffenheit. Schließlich handelt es sich um eine humanistische Lehranstalt. Auch ich habe einst ein solches Haus mit ähnlichen Fenstern besucht.
Ich bleibe stehen und erinnere mich. Wie war das noch? Trat ich gut ein? Möglich. Ging ich besser wieder aus? Ich weiß es nicht, es sei denn, einige auswendig gelernte lateinischen Sätze und das Vermögen, ein Bier auf französisch bestellen, stellt schon eine Besserung dar. Nur eines ist sicher: Diese Fenster haben mir einen Haufen Ermahnungen eingebracht, denn sie faszinierten mich mehr als das Gerede mancher Lehrer. Ihre Geschichten waren interessanter, besonders, wenn die Sonne hindurch schien. –
Ich gehe weiter, in Richtung Altstadt. Dort stehen die Häuser dicht gedrängt, schmalbrüstig, hoch aufgeschossen, manche geradezu rachitisch; sie sehen aus, als müssten sie sich gegenseitig stützen und Trost zusprechen. Ganz von der Hand zu weisen ist diese Vermutung nicht, denn einige sind teilweise erblindet – zumindest empfinde ich es so. Es sind alte Korn-Speicher, die man in Geschäftshäuser umgebaut hat, und deren obere Fensteröffnungen teilweise mit Brettern vernagelt sind, warum auch immer.
An ihnen kann ich nicht vorbei gehen, ohne dass mich eine Welle des Mitleids überrollt. Diese Häuser kommen mir vor wie dieser blinde Hund zwei Querstraßen weiter, dem man die Augen entfernt und die Augenhöhlen zugenäht hat. Ach, wenn ich dieses Tier sehe, wechsele ich schleunig die Straßenseite, der Anblick ist mir unerträglich. Gerade die Augen sind es doch, die einem den Hund liebenswert machen! Mit gesenktem Kopf trottet das arme Tier dahin, müde und zerzaust, das reinste Leiden Christi. Und ähnlich geht es mir bei diesen Häusern mit den verbretterten Fenstern. Nur können sie den Kopf nicht senken; sie sind gezwungen, ihr Schicksal aufrecht stehend zu ertragen und sich auch noch von arroganten Neubauten unverschämt anblicken zu lassen.
Schon mehrmals habe ich versucht, den Stadtrat auf das Leiden dieser Häuser hinzuweisen, habe aber nie eine Antwort erhalten. Ich hege sogar den Verdacht, dass sie sich im Rathaus über mich lustig machen. Soll´n sie doch, mich kümmert´s nicht. Mir reicht´s, wenn mich die Häuser verstehen, und da bin ich mir sicher. Denn immer wieder kniept mir eines ein Auge zu ...