Veröffentlicht: 22.12.2022. Rubrik: Nachdenkliches
Auch das ist Weihnachten...
Heute ist der 24. Dezember. Heiligabend. Er steht am Fenster und schaut hinaus. Draußen wird es schon dunkel. Es war ein trüber Tag. Im Hochhaus gegenüber kann er durch offene Gardinen einen beleuchteten Weihnachtsbaum erkennen. Seine Gedanken schweifen in die Vergangenheit.
Dort drüben in der Ecke stand immer der Weihnachtsbaum. Seine Frau, Clara, hatte ihn geschmückt. Er sieht die Kinder, die ungeduldig auf die Bescherung warteten und dann die bunten Päckchen aufrissen und jubelnd die Geschenke zeigten. Wo ist nur die Zeit geblieben?
Er schenkt sich ein Glas Wein nach. Auf dem Flur lärmen Kinder, laufen tobend und lachend durch das Treppenhaus. Zuhause waren sie auch so eine muntere Schar. Er sieht sich als Kind, Weihnachten zu Hause, mit den Geschwistern, den Eltern, den Großeltern. War das nicht erst gestern? Er riecht den Braten, den Duft der Tannennadeln...
Auf der anderen Straßenseite hält ein Auto. Ein Paar steigt aus, die Frau nimmt ein großes Paket aus dem Kofferraum. Oben geht ein Fenster auf, ein Kind winkt, ruft etwas. Das Paar verschwindet hinter der Haustür, das Fenster wird geschlossen, im Hausflur geht das Licht an, nach einer Weile wieder aus.
Er hatte schon lange keinen Besuch mehr... Vor drei Jahren starb seine Frau an Krebs. Seither ist alles anders. Heute hat er ihr Blumen und ein Licht ans Grab gebracht, eine etwas andere Weihnachtsbescherung... Er glaubt noch immer, dass der Tod des Sohnes damals den Krebs ausgelöst hat. Die Nachricht über den Unfall, der Zusammenbruch. Er hatte sie nicht stützen können, sein eigener Schmerz war zu groß. Eine Welt brach zusammen.
- - - Draußen beginnen die Glocken der Kirche zu läuten. Diesmal wird die Christmette ohne ihn stattfinden. Diesmal und für immer... - - -
Kurz darauf hatte sich die Tochter scheiden lassen und war mit dem einzigen Enkelkind nach Manchester gezogen, zu ihrem neuen Freund, Georg. Sie wollte alles hinter sich lassen, so sagte sie damals zu ihnen. Lange hat er nichts von ihr und dem Kind gehört. Er blickt hinüber zu der Kommode an der Wand. Dort leuchtet ein kleiner, künstlicher Weihnachtsbaum.
Darum herum stehen Bilder von all seinen Lieben. Sie lächeln ihn an, die Lebenden und die Toten. Auch Bob, der Terrier, den er als Welpen mitbrachte und Clara schenkte. Vor einem halben Jahr musste er ihn gehen lassen, zuletzt war er krank und sollte nicht länger leiden. Tränen treten ihm in die Augen. Alle sind fort, auch der letzte treue Freund. Er zündet sich eine Zigarette an.
Neben dem kleinen Weihnachtsbaum steht auch ein Glas mit einer milchigen Flüssigkeit darin. Es sind aufgelöste Reste von Claras Medikamenten. Er greift das Glas und geht hinüber zu seinem Sessel, setzt sich. Mit dem Zeigefinger greift er in das Glas, rührt noch einmal um, leckt den Finger ab. Brrrr, bitter! Er stürzt die Flüssigkeit in einem Zug schnell hinunter und spült mit Wein nach. Dann zieht er an der Zigarette, raucht sie zu Ende und drückt den Stummel im Aschenbecher aus. Der bittere Geschmack in der Kehle bleibt.
Es dauert noch eine ganze Weile, bis er müde wird. Er wehrt sich nicht. Das Letzte, was er wahrnimmt, ist Claras Lächeln - und neben ihr, da ist Claus!
Zwei Stunden später klingelt das Telefon, es ist Irene, sie ruft aus Manchester an. Er hört es nicht mehr.
------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Auf das Euer Weihnachtsfest fröhlicher wird! Kommt auch gut in das neue Jahr, ich freue mich, wieder von Euch zu lesen! Eure Gari Helwer!