Veröffentlicht: 21.08.2022. Rubrik: Unsortiert
Morgen wird alles ganz anders sein - oder: Das Teppichmesser...
Es fing damit an, dass ihre Tochter das Studium abgebrochen hatte und nun als "Callgirl" Geld verdiente. Sie konnte es nicht begreifen. Ramona hatte ihr erklärt, dass sie sich für diese Tätigkeit entsprechend zurecht macht und dann jemand ganz anderes sei. Sie habe dann auch einen anderen Namen. Über ihre Kundschaft äußerte sich Ramona mit einem solchen Zynismus und einer Geringschätzigkeit, dass es ihr kalt den Rücken hinunter gelaufen war. Sie erkannte ihre eigene Tochter nicht mehr...
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Es ist schon spät und sie legt die Sachen zurecht. Morgen ist ein neuerlicher Gerichtstermin wegen der Scheidung und des Unterhaltes. Vor zwei Jahren hat er sie verlassen. Seitdem ist alles anders. Da sind noch Papiere für ihren Anwalt. Sie legt sie neben die Handtasche auf das Schuhschränkchen in der Diele. Etwas fehlt noch, sie sucht in der kleinen Kommode herum.
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Dann kam der Tag, als sie Ramona zu sich einlud, auf einen Kaffee und zum Reden. Was sie dann hörte, zog ihr den Boden unter den Füßen fort. Erst wollte sie es nicht glauben, so ungeheuerlich schien es ihr! Doch je mehr ihre Tochter redete, desto mehr begriff sie, dass es genauso gewesen sein musste. Die Puzzleteilchen fügten sich ineinander. Sie hatte die Zeichen nicht zu deuten gewusst - denn es lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Sie hatte es nicht bemerkt. Sie hatte ihre Tochter Ramona nicht geschützt. Der Mann, den sie liebte - zumindest damals noch - hatte ihr das wieder und wieder angetan. Alles war ganz anders gewesen, als in ihrer eigenen Wahrnehmung.
ER war ganz anders!
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In der Schublade im Küchenschrank findet sie es. Sie nimmt es in die Hand. Es ist leicht und griffig. Es sind auch noch genügend scharfe Klingen in dem roten Teppichmesser... Sie fährt eine weitere heraus. Wie sie glänzt im Licht der Küchenlampe! Und dann sieht sie es ganz genau vor sich, das was sie morgen tun wird. Es muss noch vor dem Gerichtsgebäude geschehen, denn mit dem Teppichmesser in der Handtasche würde sie nicht durch die Sperre am Eingang kommen.
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SIE SIEHT VOR SICH, WIE SIE IHN ABPASST, NOCH VOR DEM EINGANG DES GERICHTS. SIE SIEHT SCHON VOR SICH, WIE SIE ZUSTICHT, WIE DIE KLINGE IN DEN HALS SCHNEIDET, WIE SIE DIE HALSSCHLAGADER DURCHSCHNEIDET UND DAS BLUT FLIESST. SIE STELLT SICH SEINEN UNGLÄUBIGEN UND ENTSETZTEN BLICK VOR, WENN MIT DEM BLUT DAS LEBEN AUS IHM HERAUS FLIESST, DORT, VOR DEM EINGANG ZUM GERICHT... DER ENTSCHLUSS FÜHLT SICH GUT AN, JA GERADEZU BEFREIEND, EINFACH GROSSARTIG! WENN SIE IHRE TOCHTER AUCH NICHT SCHÜTZEN KONNTE, SIE WIRD SIE RÄCHEN! SIE WIRD IHN BESTRAFEN, FÜR DAS, WAS ER IHRER TOCHTER ANGETAN HAT!
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Sie atmet tief durch, steckt die Papiere für den Anwalt in ihre Handtasche. Das Teppichmesser legt sie daneben. Sie schaut in den Spiegel über dem Schuhschränkchen. Die Augen in dem blassen Gesicht, das sie nicht kennt, leuchten mordlüstern. Sie löscht das Licht.
Morgen wird alles ganz anders sein...