Veröffentlicht: 02.11.2022. Rubrik: Unsortiert
Unkenrufe
Letztes Jahr, im hohen Juli, quartierte ich mich auf einem Campingplatz am Rande eines raumgreifenden Baggersees ein. Abends, beim flackernden Schein einer blakenden Kerze und Bier und Chips, genoss ich das satte Farbspiel des späten Sonnenuntergangs.
Auf einmal ... was war das? Ein mückenfeiner Glockenton – blink – blink – – dann weiter weg das Echo: dinn – dinn – –; dann, dunkler: donn – donn – –
Und nun begann das Konzert der Frösche, und zwar bald in einer Lautstärke, wie ich sie bis dahin noch nie erlebt hatte. Neugierig geworden stand ich auf und trat ans Ufer. Es war unbeschreiblich. Aus dem Röhricht lieferten sich die Tiere einen regelrechten Sängerwettstreit. Ha! Das hörte sich an, als wollte jede Mannschaft die andere an Gesangeslust überbieten. Da knurrte und knarrte es, hier erscholl ein lautes Quak-Quak, dann wieder ein gepresstes Quork-Quork, und immer wieder ein vereinzeltes, tiefes Dong – Dong – Dong, wie aus einem buddhistischen Tempel. Es muss die Stimme des Dirigenten gewesen sein, der die ganze Bande im Takt hielt. Nie hätte ich geglaubt, dass Frösche und Kröten solch einen ohrenbetäubenden Lärm machen können.
Plötzlich war, wie auf ein geheimes Kommando hin, das Konzert beendet. Doch die Ruhe währte nur kurz. Schon erklangen einzelne schüchtern-verhaltene Stimmen, und dann brach das Spektakel, lauter und herrlicher als zuvor, von neuem los. Sogar die schwarzen Kronen der Kiefern schienen verblüfft; sie standen regungslos.
Ich lauschte fasziniert.
Nun gut. Das alles war zwar beeindruckend, aber nicht sonderlich aufregend; Frösche und Kröten ... nichts, um daraus eine Geschichte zu machen, zumindest keine, die irgend jemanden interessieren könnte.
Doch da war jetzt noch ein anderes Geräusch, das über dem Quakkonzert lag. Es klang wie das Sirren von Telefondrähten oder das Jammern von Schiffstakelagen, durch die der Wind pfeift, nur unheimlicher.
Noch während ich darüber nachdachte, sah ich ein, dass diese Erklärung nicht stimmen konnte. Zwar zog sich tatsächlich in etwa fünfhundert Metern Entfernung eine Telefonleitung wie ein dünner Strich vor der untergehenden Sonne dahin, doch es herrschte absolute Windstille. Also, woher kamen diese seltsamen Töne?
Um es kurz zu machen, sie kamen aus einer fast vollständig von blühenden Seerosen bedeckten Bucht. Nun war mir auch klar, wer da so erbärmlich jammerte: Unken, diese seltsamen rotbäuchigen Geschöpfe, von denen manche Leute behaupten, ihr Ruf kündige Unheil an. Mein Rücken überzog sich mit einer Gänsehaut. Es hörte sich an wie das Gejammer hunderter kleiner Kinder, die den Verlust ihrer Eltern beweinen.
Anscheinend hatten die Unken mein Kommen bemerkt, denn das Gejammer brach ab. Ich wartete, begierig, noch mehr von der Tragödie, die da gerade gesungen wurde, zu erfahren. Tatsächlich erhob nach einiger Zeit ein Vorsänger seine Stimme, und nach und nach stimmten die anderen mit ein.
Mittlerweile hatte sich der Himmel blutrot verfärbt, was die unheimliche Wirkung noch verstärkte. Mich schauderte. Irgendein Unheil lag in der Luft, ich spürte es deutlich, wenn ich auch nicht sagen konnte welches: Der Abend war friedlich. Ich ging zurück zum Platz, vor mir das Quakkonzert der Frösche, hinter mir das Gejammer der Unken. –
Nun ist wieder Krieg in Europa, und, verdammt nochmal, ich komme von dem Gedanken nicht los, dass die Unken das damals, vor gut einem halben Jahr, schon geahnt haben. War ihr Gesang ein Trauergesang auf die menschliche Zivilisation? Wollten die Frösche und Kröten mit ihrem Lärm die bösen Geister bannen? Warum nicht? Warum sollten denn Geschöpfe, die schon seit 200 Millionen Jahren diesen Planeten besiedeln, sich nicht besser in Raum und Zeit auskennen als der Mensch?