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5xhab ich gern gelesen
geschrieben von Federteufel.
Veröffentlicht: 10.10.2022. Rubrik: Unsortiert


Der steinerne Hai

Der Weg verließ das Tal und bog in den Wald ein, in dem mich der warme Dunst der nachgewitterlichen Erde empfing. Der dampfende Wald, die gute Stube der Natur, war mit allerlei Zierrat ausgestattet: Mit dem samtgrauen Flor der Flechten, mit weichen Moospolstern, mit Bulten weißschöpfiger Sumpfgewächse, auf dem Boden Teppiche geknüpft aus dem Garn rötlich schimmernder Waldkräuter. Dazwischen, mausgrau und nackt, bauchige, violette Schatten werfende Felsenkissen. Alles glänzte fiebrig, wie von schwerer Krankheit gezeichnet. Auf einer Lichtung genoss eine Schar halbwüchsiger Pappeln die neue Freiheit.
So schritt ich dahin durch wunderliche Zwergenwälder aus Farnen, Schachtelhalmen und anderen Kindern des Waldgottes. Und überall tropfte es; von oben, von unten, von hinten, von vorne, weiß Gott, woher die Tropfenheere kamen, das Gewitter hatte sich doch schon längst verzogen. Bald war ich durchnässt bis auf die Haut. Mir war´s einerlei; umkehren, so nah vorm Ziel, ist meine Sache nicht.
Je höher nun ich stieg, desto mehr lichtete sich der Wald, verlor er seine naturgegebene Ordnung. Ein Chaos durcheinander gewirbelter Baumstämme empfing mich, zu riesigen Wogen aufgeworfen oder wie in rasender Wut zersplittert, Geäst und Laub zu wüsten Haufen geballt: Der Wald war zerschlagen bis auf den Grund. Nun erkannte ich, dass die Tropfen Tränen gewesen waren; die Bäume hatten harzige Tränen der Verzweiflung geweint.
Die Ursachen sind bekannt; also schweige ich dazu.
Endlich ein Hinweisschild, dann ein Blick über kahle Flächen in dampfende Höhe: Da lag er vor mir, der Hohle Stein, ein weithin berühmtes Naturdenkmal. Auf runder Bergkuppe lag er, wie ein grauweißer Riesenhai, mit einer Haut aus uraltem Karst, vor Jahrmillionen gestrandet, das zahnlose Riesenmaul aufgerissen und in gewaltiger Gähne erstarrt.
Ich kletterte einen schmalen Steig hoch und betrat die Höhle. Bleiche Erde, abgeschliffene Felsen, leere Bierdosen, sonst: Hallende Leere. Weiter hinten ein Spalt, dessen schwarze Unergründlichkeit mich lockte. Jetzt eine Maus sein, dachte ich, was würde ich vorfinden? Weitere, unbekannte Höhlenwelten, mit Wiesen, Wäldern, Städten und Dörfern, von der Glut der Erde gewärmt? Mit Bewohnern, die ohne Gier und falsch verstandenem Gottesglauben friedlich miteinander auskommen?
Ich stieg den Pfad wieder hinunter und stellte mich vor die Tafel mit den Erklärungen. Da hatte hier also der Urmensch zwanzig-, dreißigtausend Jahre gewohnt. Hatte Kinder geboren, Tote begraben, Hochzeiten und Siege gefeiert, Niederlagen erlitten. Hatte mit Pfeil und Bogen Bären und Elche gejagt oder auf der faulen Haut gelegen. Seine Priester hatten ihm gesagt, dass sich hinter allen Naturerscheinungen Götter verbergen, und er hatte es geglaubt, denn nur die Götter besitzen die Gewalt, Feuer und Wasser vom Himmel zu werfen. Hatte sich nicht den Kopf mit Vergangenem oder Zukünftigem schwer gemacht. Ein Tag war wie der andere, zwanzig-, dreißigtausend Jahre lang. Ein gleichförmiges Fließen der Zeit im Wechsel der Jahreszeiten. Unvorstellbar, dass es jemals anders kommen könnte.
Ich blickte zurück, in den Rachen des Hais. Da lag es, das Riesenmaul, schwarz, leer und doch voll unsichtbarer Fülle. Es war die Zeit, die ihm entströmte, unhörbar, unablässig, mit gnadenloser Konsequenz. Denn woher sollten sie denn gekommen sein, die Zeit, all die Jahre, die hinter uns liegen; und woher würde jene kommen, die noch vor uns liegt? Mit ihrer zerstörerischen und aufbauenden Kraft? Wenn nicht aus dem Inneren der Berge?
Mich schauderte.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Ernst Paul am 11.10.2022:

Diesen schönen poetischen Text habe ich sehr gern gelesen.




geschrieben von anschi am 11.10.2022:

Da hat jemand nicht nur das Auge, sondern auch die Worte, um "Natur" zu erkennen und zu beschreiben. Sehr schön! Persönlich habe ich diese Gefühle allerdings nicht, von denen wir hier erfahren. Für mich waren und sind Findlinge unerschütterliche Festpunkte, die von den Zeiten umströmt werden und dabei doch immer gleich bleiben. Der Besucher, der wandelbare, wankelmütige Mensch, sucht sie immer wieder auf und nimmt sie, die Ewiggleichen, immer wieder anders wahr, je nach seiner momentanen Gefühlslage. Es ist nicht das zu Stein erstarrte Haifischmaul, das zu uns spricht und das Neues hervorbringt, sondern es reflektiert unser Gemüt und lässt es ungerührt widerhallen - jeden Tag neu und wieder anders als zuvor. Eine Echowand. Sie hilft, uns selbst zu erkennen und den Wandel zu messen, dem wir unterworfen sind. Über alle Generationen hinweg. lg anschi




geschrieben von Christelle am 13.10.2022:

Eine schöne Beschreibung der Natur mit Gedanken, wie die Urmenschen gelebt haben könnten. Dein Schreibstil gefällt mir sehr gut. Wieder einmal: Gern gelesen…




geschrieben von Kurt Brunner am 18.10.2022:

Perfekt und sehr schön geschrieben. Gratuliere. Für meinen Geschmack könnte eine Geschichte noch etwas mehr Handlung haben. Kurt Brunner ("Eine unheimlich anhängliche Katze" und "ZumTeufel mit dem Kuckuck").

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