Veröffentlicht: 20.10.2022. Rubrik: Unsortiert
Der Abschied
Eine unwiderstehliche Sehnsucht zwang mich, die Landstraße zu verlassen und einen steilen Seitenweg hochzufahren, auf ein kleines Bergnest zu, in dem ich einen Teil meiner bartlosen Jugend verbracht hatte. Auf halber Höhe entdeckte ich ihn wieder, den Feldweg, auf dem ich damals bei schönem Wetter gerne gewandert war. Ich hielt an, stieg aus und wagte den Schritt zurück in die Tiefe der Zeit, denn seitdem ist es mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen.
Ich ging eine Weile in Erinnerungen versunken – da war auch die Bank noch, auf der ich damals oft gesessen und vor mich hin geträumt hatte. Doch wie sah sie jetzt aus! Das Holz in scharfe Falten gelegt, ihr dürrer Körper nach hinten geneigt wie in Abwehr eines schweren Wetters. Doch noch war ihr hölzernes Gerüst fest; wieder setzte ich mich in die feierliche Stille, wie schon damals. Die Luft schwitzte eine ungesunde Schwüle aus; der Sommer war fast über Nacht gekommen, mit der Zügellosigkeit ausgeruhter Jagdhunde: Hatte er doch einen langen Winter Zeit gehabt, Kraft zu sammeln.
Mein Blick streifte das sanfte Grün der Wiesen, flog über den gelben Filz der Felder, verweilte an einer kauzig-knorrigen Baumgestalt. Auf einmal erschien mir die Natur so still, so harmonisch, in jener reinen Kraft, die ich damals so genossen hatte. Eine wundersame Gelöstheit, eine erlösende Heiterkeit, wie ich sie lange nicht mehr gespürt hatte, verdrängte die Anspannungen der Autofahrt.
Und dann hörte ich ihn, den leisen Schrei, der mir in diesem Moment wie der Gesang eines verlorenen Kindes vorkam. Jetzt sah ich auch den Urheber des Schreis, dieses sanften Ur-Schreis: Ein kleines goldiges Geschöpf auf dem Baumveteranen vor mir: Eine einsame Goldammer, die einzige Sängerin warmer Hochsommertage, deren ßrii – ßrii mir wieder diese unerklärliche, unauslotbare Sehnsucht einflößte. Jetzt kam sie mir wie eine lang verlorene und wieder gewonnene Bekannte vor, an deren Verlust ich jedoch völlig unschuldig war, denn da, wo ich jetzt wohne, gibt es keine Goldammern, oder sie sind bereits ausgestorben.
Mir war, als sei die Zeit stehen geblieben. Mit vollen Zügen genoss ich diesen Stillstand, fühlte mich wieder jung und unbeschwert, wie damals, vor einer kleinen Ewigkeit. Natürlich war es ein angenehmer Trugschluss, denn meine Jugend, das muss auch gesagt werden, verlief keineswegs ohne Beschwernisse.
Eine Feuerwanze fand an mir Gefallen und erwählte mich zum Landeplatz. Ich betrachtete die flammende Schönheit. Wenn ich auch nicht an einen wesenhaften Schöpfer-Gott glaube, so bin ich doch überzeugt, dass solch ein Geschöpf in seiner feierlichen Würde kein Zufallsprodukt sein kann. Es muss eine unfassbar-umfassende Intelligenz geben, die den Plan für die Erscheinungsformen und Gestaltungen der Natur enthält, und die über Raum und Zeit steht.
Wieder sah ich mich, mit dem Käscher in der Hand, auf Insektenfang. Wie konnte ich nur! Ich tötete die gefangenen Wesen, spießte sie auf Nadeln, bestimmte sie, ordnete sie in Kästen. Ich meinte, wenn ich ihre Namen kennte, würden sie mir ihre bunten Geheimnisse verraten und vergrub mich in Bibliotheken. Ich meinte, durch das Anhäufen von Wissen einen Anteil am Unfassbaren zu gewinnen. O welch ein Irrtum! Mit dem Wissen schwand der Zauber, der über allen unbenannten Dingen liegt. Statt tieferer Einsicht atmete ich Staub!
Weiter ging mein Blick, höher, und ich erstarrte.
Verschwunden war der verträumte Märchenwald, entzaubert die grünen Höhen, entweiht die sanften Hänge, die damals mein Auge verwöhnt htten. Statt Fichtenkronengezack kahle Flächen wie die Rücken urzeitlicher, schlafender Ungeheuer. Und darüber die stählernen Kolosse der Elektrizitätsindustrie, deren Rotoren in ihrer rastlosen Bewegung den Bergen ihre Ruhe und ihre Würde nahmen. In welcher Zeit leben wir, dachte ich, jetzt, wo sich die Rastlosigkeit einer unersättlichen Menschheit schon über den Bergen zeigt! Nun erschien mir der Himmel nicht mehr so groß, rund und weit wie eben noch; er kam mir eingeengt vor, unfrei, wie besiegt. Und mir wurde die Vergänglichkeit alles Schönen bewusst, die Verletzlichkeit alles Ruhenden. Die ungestörte Natur: Ein Trugbild.
Ich stand auf und ging zum Auto zurück. Es war ein Abschied für immer.