Veröffentlicht: 31.10.2022. Rubrik: Unsortiert
Mittwochnachmittag
Mittwochnachmittag trifft sich Else immer mit ihren Freundinnen. Diese Frauen kennen sich schon lange und haben auch die Zeit, um sich zu treffen. Sie sind Rentnerinnen. Mädchennachmittag nennen sie ihre Treffen. Jede der Freundinnen richtet einmal dieses Treffen aus. Es geht reihum. In 14 Tagen wird Else dieses Treffen ausrichten.
Mittwochnachmittag besteht meine Aufgabe darin, notwendige Einkäufe zu erledigen. Else legt mir einen Zettel und den Einkaufsbeutel auf den Küchentisch, sagt, ich könne auch mit Karte bezahlen und verabschiedet sich mit einem Wangenkuss.
Mittwochnachmittag gehe ich, nachdem ich die Einkäufe erledigt habe, zu Irene. Irene ist Besitzerin des Cafés „Irenes Eck“, ein kleines Café, nur unweit von unserer Wohnung entfernt. Ich trinke gern eine Tasse Kaffee bei ihr, auch mal einen Cognac. Es geht sehr familiär zu. Fast alle Gäste sind Stammkunden und kennen sich. Irene ist mit allen per du und schreibt auch mal an, wenn das Kleingeld bei einem Stammkunden nicht reicht, an. Ungezwungene und belanglose Gespräche finden hier immer statt.
Mittwochnachmittag letzter Woche arbeitete ich Elses Auftrag ab und ging zu Irene. Ich suchte mir einen Platz am Fenster, bestellte mir eine Tasse Kaffee und einen Cognac. Atze betrat das Café, schaute sich um und setzte sich zu mir. Er bestellte sich eine Tasse schwarzen Tee. Ich schaute ihn fragend an. „Schwarzer Tee verlängert das Leben“, sagte er, ohne meine Frage abzuwarten und zog eine Zeitschrift aus seiner Tasche: ‚Sieh her und ließ es selbst‘.
Ich nahm die Rentner-Bravo* und las Folgendes:
„Wer schwarzen Tee trinkt, lebt länger, legt eine Studie aus dem Magazin Annals of Internal Medicine nahe. Forschende analysierten Daten von etwa 500 000 Männer und Frauen. Teetrinkerinnen und -trinker hatten im Vergleich zu Menschen ohne Teekonsum ein geringeres Risiko für vorzeitigen Tod: Die Sterblichkeit sank um bis zu 13 Prozent. Zwar belegt die Studie keinen eindeutigen Zusammenhang. Doch die Ergebnisse zeigen, dass schwarzer Tee Teil einer gesunden Ernährung sein könne, erklärt die Forschungsgruppe.“
„Ich glaube nicht, dass ich mich deshalb auf schwarzen Tee umstelle“, entgegnete ich, als ich diesen Artikel gelesen hatte, „ich bleibe beim Kaffee. Mein Körper hat sich an Kaffee gewöhnt.“ Atze überhörte meine Worte, zog eine Dose Tee aus seinem Beutel und stellte sie auf den Tisch. „Ich habe mir die Sorte ‚Earl Grey‘ gekauft“,
sagte Atze. „Mit dieser Sorte werde ich den Umstieg vom Kaffee auf den schwarzen Tee beginnen. Und ich werde alt werden, steinalt“.
Wir unterhielten uns noch weiter über Belangloses, als sein Handy klingelte. Er sprang schnell auf und sagte, er müsse dringend weg. Ohne zu bezahlen, verließ er das Café, stieg in seinen alten Opel und startete mit quietschenden Reifen. Ich trank in Ruhe die Tasse Kaffee und den Cognac, bezahlte und begab mich auf den Nachhauseweg. Ein Polizeiauto und ein Krankenwagen kamen mir mit Blaulicht und überhöhter Geschwindigkeit entgegen. Polizeiautos und Krankenwagen im Einsatz aktivieren mein Gehirn und regen zum Nachdenken an. Obwohl ich keinen Drang habe, näheres über solche Einsätze zu erfahren, geschweige denn, solche Unfallstellen zu besuchen, um Fotos zu machen, beschäftigen sie mich. Die täglichen Berichte von den Unfällen, die regelmäßig im Fernsehen gesendet werden, tauchen in meinem Gehirn auf. Als ob es nichts Anderes gibt, was die Zuschauer interessieren könnte. Wenn solche Beiträge gesendet werden, schalte ich oft auf einen anderen Sender oder ich schalte die Kiste ganz aus. Zertrümmerte Autos und Unfallopfer möchte ich nicht täglich im Fernsehen sehen. Daran will ich mich auch nicht gewöhnen. Ich lass` mich auch nicht dazu zwingen, obwohl ich gezwungen werde, dafür zu bezahlen. Meine Möglichkeit, das Programm zu bestimmen, besteht nur im Um- oder Abschalten des Gerätes. Meine Zwangsabgabe wird für die üppigen Gehälter und fetten Pensionsrückstellungen der raffgierigen Intendanten/-innen und ihrer nicht minder gefräßigen Vasallen/- innen benötigt; unfähig, zuschauerfreundliche Programme zu gestalten. Solche Blaulichtfahrten lösen in mir immer Emotionen aus, erregen mich innerlich und bringen meine Gedankenwelt völlig durcheinander. Ich gerate dann immer ich in Rage, beruhige mich aber auch wieder schnell. Als ich zu Hause ankam, hatte ich den Blaulichteinsatz längst vergessen. Auch Else sprach mich nicht auf diesen Einsatz an. Sie sagte nur, dass sie in 14 Tagen mit dem Ausrichten des Mädchennachmittags beauftragt sei. Ich könne zwar anwesend sein, nuschelte sie fast unverständlich, sie habe da prinzipiell nichts dagegen. Die Männer der anderen Frauen suchten sich aber an so einem Nachmittag eine Beschäftigung außerhalb der Wohnung. Das stände mir auch offen. Ich könne mir doch schon mal darüber Gedanken machen, wie ich diesen Nachmittag verbringe.
Mittwochnachmittag. Else bereitet heute den Mädchennachmittag vor. Den Vormittag nutzten wir zum Einkauf. Ich durfte Else zum Einkauf begleiten, um die Taschen zutragen. Mehr nicht. Sie wisse selbst, was sie zu einem Mädchennachmittag benötigt. Meine Ratschläge bräuchte sie dazu nicht, lies sie mich beim Einkauf wissen. Jetzt bin ich ohne Beschäftigung. Else rotiert durch die Wohnung. Meine Hilfe bräuchte sie auch nicht, sagt sie, sie käme allein zurecht. Auch würde ich nur im Weg stehen und ihre Haare müsse sie auch noch machen.
Ich ziehe mir den Blouson über, stelle mich vor den Spiegel, ziehe meinen Scheitel nach, sprühe einen Hauch ‚Eau de Cologne‘ an mein Unterkinn, nehme die Haustürschlüssel und verlasse die Wohnung. Um zu meiner inneren Balance zurückzufinden, ist „Irenes Eck“ für mich immer eine gute Adresse.
Auf dem Weg dahin kommt mir Atze entgegen. Zwei Krücken benötigt er, um sich allein fortbewegen zu können. Das rechte Bein im Gips hindert ihn am normalen Gang. Mit blauem Stift steht dort das Datum des Eingipsens; lieblos und flüchtig auf dem Gips vermerkt. Die kleinen roten Herzchen wirken dekorativer. Auch der kleine bunte Blumenstrauß, unter dem in säuberlicher Schulausgangsschrift steht: ‚Ich habe dich lieb, Opa!‘ sind gelungen. Seine Enkeltochter habe eine kreative Phase gehabt, als er kürzlich seinen Mittagsschlaf hielt, wird er mir später im Café erzählen. Atze ist immer gut gelaunt und nimmt das Leben locker: „Bei unserem letzten Treffen musste ich schnell weg“, beginnt er das Gespräch, „meine Tochter hatte ein dringendes Anliegen. In meiner Eile warf ich die Teedose neben den Beifahrersitz. Unterwegs wollte ich sie aufheben. Dabei habe ich einem SUV die Vorfahrt genommen. Das Ergebnis siehst du hier“, sagte er und fügte hinzu: „Schwamm drüber. Schwarzteetrinker werden eben steinalt. Komm, wir gehen zu Irene. Ich muss noch eine Tasse Tee bezahlen.“
*Apotheken-Umschau (15. Oktober 2022)