Lieb

Englisch hat es mal wieder einfacher. Als Briefanfang passt immer Dear. Bei uns dagegen klafft ein Riesenunterschied zwischen „Sehr geehrter Herr Müller“ und „Lieber Hans“.

Dafür mag es mehrere Gründe geben. Ich möchte mich hier jedoch auf das Wort lieb konzentrieren – nicht nur in Bezug auf Briefe. Vielen ist wahrscheinlich gar nicht bewusst, wie kompliziert dieses Wort ist.

Auf den ersten Blick ist alles einfach: Lieb = liebenswert. Allerdings ist bereits diese Aussage nicht allgemeingültig. Schockierte Mutter zum 17-jährigen Töchterlein: „Wie kannst du nur diesen Rabauken lieben?! Der ist doch überhaupt nicht lieb!“ Tochter: „Ja, gerade das liebe ich an ihm!“

Eine weitere Schwierigkeit beim Wort lieb wird ersichtlich, wenn man es mit dem englischen dear in Briefanreden vergleicht. Sagt man im Englischen tatsächlich zu jeder Person „Liebe(r)“?

Nein, wenn man lieb im Sinne von „liebenswert, nett“ versteht („er ist lieb“). Jedoch hat das Wort auch die Bedeutung „wert, teuer“ („er ist mir lieb“). Mit diesem „teuer“ ist das englische dear sprachgeschichtlich verwandt.

Wortwörtlich übersetzt beginnt man einen englischen Brief also mit „Teure(r) ...“ Auch dies ist natürlich eine bloße Floskel, denn es ist unmöglich, einen jeden Briefempfänger als „wert und teuer“ zu empfinden.

Obwohl, wie gesagt, das deutsche lieb beide Bedeutungen enthält, wird es heute fast nur noch als „liebenswert, nett“ verstanden. Muss man einem Menschen schreiben, den man bisher so anredete und der einen inzwischen geärgert hat, bietet sich die Gänsefüßchen-Lösung an: „Liebe“ Luisa, den Grund für die Anführungszeichen kannst Du Dir hoffentlich denken!!!

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