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9xhab ich gern gelesen
geschrieben 2022 von Christine Todsen.
Veröffentlicht: 18.06.2022. Rubrik: Menschliches


Die Halskette – Teil 1

„Über Tote soll man nur Gutes reden“, so sagte schon die Antike – aber bei manchen Toten ist das gar nicht so einfach. So auch bei meiner kürzlich im Alter von 85 Jahren verblichenen Tante Ingeborg.

Die alleinstehende, kinderlose Frau wohnte bis zuletzt in ihrer eigenen Wohnung und wurde von der Polin Agata gepflegt. Ich – als Tochter ihrer verstorbenen Cousine ihre Nichte zweiten Grades – schaute ungefähr einmal pro Woche bei ihr vorbei.

Auch ihr Hausarzt sah regelmäßig nach ihr. Ihm vertraute ich mich eines Tages an. „Herr Doktor, könnten Sie meine Tante Ingeborg bitte einmal fragen, wo sie ihr Testament und ihre anderen Dokumente aufbewahrt, sodass ich das für den Fall ihres Todes weiß? Ich selbst scheue mich, mit ihr darüber zu reden.“

Einige Tage später rief der Arzt mich an. „Frau Born, heute habe ich mit Ihrer Tante Ingeborg gesprochen. Sie sagt, einige Dokumente seien unten im Wohnzimmerschrank, aber ein Testament habe sie nie machen wollen. Von ihr aus könne die gesetzliche Erbfolge eintreten. Dann bekäme ihr Bruder Herbert alles, oder, falls er dann schon tot wäre, seine Tochter Karola.“

Ich war entsetzt. „Onkel Herbert habe ich schon seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen! Ich glaube, er ist nach Südamerika ausgewandert! Seine jetzige Adresse kenne ich gar nicht! Und die von Karola auch nicht!“

Der Arzt versprach, alles zu versuchen, um meine Tante doch noch zur Errichtung eines Testaments zu bewegen, zumindest aber zu einer Notiz mit den Kontaktdaten von Herbert und Karola. „Ob mir das gelingt, kann ich Ihnen leider nicht versprechen, Frau Born. Sie kennen Ihre Tante ja…“

Mit Agata verstand ich mich gut. Wir waren sogar per Du und per Vornamen. „Sabine“, sagte sie eines Tages zu mir, als Ingeborg uns nicht hören konnte, „deine Tante hat so eine wunderschöne Halskette mit lauter bunten Steinen. Ist nur Modeschmuck, aber ich liebe sie!“

Ich wusste, welche Kette sie meinte, und konnte mir auch denken, warum Agata sie erwähnte. „Wenn meine Tante einmal nicht mehr lebt, dann werde ich mich bemühen, dass du die Kette bekommst. Ich selbst bin wahrscheinlich nicht die Erbin…“

*

Nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt starb Ingeborg, ohne Testament und ohne eine Notiz mit den Adressen von Bruder und Nichte. Immerhin stand fest, dass Herbert tatsächlich ihr nächster Verwandter war. Und da er einen seltenen Nachnamen trug, gelang es schließlich, ihn in Argentinien ausfindig zu machen. Er versprach zu kommen, was allerdings erst frühestens in zwei Wochen möglich sei.

Ingeborg hatte ein anonymes Urnenbegräbnis ohne Trauerfeier gewünscht, was möglichst schnell nach ihrem Ableben stattfinden sollte. Mit Herberts Einverständnis wurde dies schon vor seiner Ankunft durchgeführt.

„Ist es für dich in Ordnung, Sabine, dass ich jetzt nach Polen zurückfahre?“, fragte Agata am Telefon. Ich wollte dies gerade bejahen, als mir die Halskette einfiel. Was sollte ich tun? Ich müsste Herbert als mutmaßlichen Alleinerben fragen, ob Agata sie haben durfte…

„Ja, Agata, obwohl es mir natürlich leid tut, dass du gehst. Wäre es möglich, dass du in etwa einer Stunde noch mal kurz hierhin in Ingeborgs Wohnung kommst? Dort können wir uns verabschieden.“

Kaum hatte Agata dies versprochen, als ich mir die Kette schnappte und zum nächstgelegenen Juwelier raste. „Könnten Sie mir sagen, wie viel diese Kette wert ist?“

„Maximal dreißig Euro“, sagte der Experte etwas verächtlich. Ich bat ihn, mir dies aufzuschreiben. Dann lief ich zurück, nahm aus meinem Portemonnaie einen Zwanzig- und einen Zehn-Euro-Schein, legte beide in Ingeborgs Geldbörse und fügte die Notiz hinzu mit meinem eigenen Vermerk: + 30 € für Halskette, S. Born.

Als Agata kam, überreichte ich ihr die Kette. „Für dich!“ Sie umarmte mich unter Tränen.

*

Endlich war Onkel Herbert da. In Begleitung eines Anwalts besichtigte er Tante Ingeborgs Wohnung. Ich hatte meine gute Freundin Sonja gebeten, dabei zu sein, damit ich mich nicht allein mit den beiden auseinandersetzen musste.

Den ersten Schock hatte ich bereits kurz nach Herberts Ankunft erhalten. Ich erfuhr, dass seine Tochter Karola vor zwei Jahren tödlich verunglückt war. Nichts hatte ich davon gewusst.

„Wo ist denn Ingeborgs bunte Halskette?“, fragte er plötzlich. Mir blieb fast das Herz stehen. Zum Glück kannte Sonja die Geschichte bereits. „Soll ich es sagen?“, flüsterte ich ihr zu. „Geht wohl nicht anders“, wisperte sie zurück.

Ich holte die Geldbörse meiner Tante mit der Notiz und berichtete alles. Schließlich hatte ich die Kette ja bezahlt. Dennoch bekam Herbert einen Tobsuchtsanfall.

„Wie konntest du dieser Polin die Kette geben?! Sie gehörte zu meinem Erbe! Sie war viel wertvoller als dreißig Euro! Sie…“

Er griff sich plötzlich an die Brust und fiel um. Der alarmierte Notarzt konnte nur noch seinen Tod feststellen.

„Mach dir keine Vorwürfe, Sabine“, sagte meine Freundin Sonja. „Seine Gier hat ihn das Leben gekostet.“

Jetzt waren die zwei ersten gesetzlichen Erben von Tante Ingeborg alle beide tot. Da sie nur sehr wenige Verwandte gehabt hatte, stellte sich schließlich vorige Woche heraus, dass ich, ihre Nichte zweiten Grades, nun die Alleinerbin bin.

Als erstes mache ich jetzt eine schöne Urlaubsreise nach Polen und besuche Agata. Dort werde ich auch die Halskette wiedersehen, mit der alles seinen Anfang nahm…

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Gari Helwer am 18.06.2022:
Kommentar gern gelesen.
Wie immer unterhaltsam zu lesen, Christine! Mir kam beim Lesen der Gedanke, die bunten Steinchen könnten Rohdiamanten sein, oder so... Ob wohl jemand das wusste? Ich hoffe, Du lässt uns wissen, wie es weiter geht! LG




geschrieben von Christine Todsen am 18.06.2022:

Eine sehr interessante Idee, Gari! Für den vorliegenden Text aber leider nicht geeignet, denn die Steine wurden ja von einem Experten als Modeschmuck erkannt. Die Behauptung des gierigen Onkels, die Kette sei viel wertvoller, ist aus der Luft gegriffen. Im Übrigen habe ich keine Fortsetzung geplant. Aber DU kannst ja mal eine Geschichte schreiben, die auf Deiner Idee beruht! Liebe Grüße!




geschrieben von Gari Helwer am 19.06.2022:
Kommentar gern gelesen.
Hallo Christine! Mir stellte sich die Frage, ob der Experte sich geirrt haben könnte. Es steckt so viel Potenzial in Deiner Geschichte, dass ich mir eine Fortsetzung hätte vorstellen können. Aber von DIR geschrieben!!! Liebe Grüße!




geschrieben von Christine Todsen am 20.06.2022:

Habe soeben eine Fortsetzung gepostet.

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