Veröffentlicht: 20.06.2022. Rubrik: Menschliches
Die Halskette – Teil 2
Ursprünglich hatte ich für meine Geschichte DIE HALSKETTE keine Fortsetzung geplant, aber auf Anregung von Gari Helwer im Kommentarteil der Geschichte kommt hiermit der zweite von zwei Teilen.
Übermorgen beginnt nun mein Polen-Urlaub, und wie immer vor meinen Reisen kommt meine Freundin Sonja zu mir, um alles Nötige zu besprechen. Sie passt nämlich immer auf meine Wohnung auf, wenn ich weg bin. Ich tue dasselbe für sie.
Nachdem wir das lästige Thema für diesmal erledigt haben, sitzen wir noch gemütlich auf dem Balkon. „Weißt du, was mir gestern durch den Kopf ging, Sabine?“, fragt Sonja. „Dein Onkel behauptete doch, die Halskette sei viel wertvoller als dreißig Euro gewesen. Das stimmte natürlich nicht. Sowohl für den Juwelier als auch für dich und Agata stand ja fest, dass es sich um Modeschmuck handelte. Aber … könnte dein Onkel mit ‚Ingeborgs bunter Halskette‘ vielleicht eine andere Kette gemeint haben? Hatte deine Tante auch eine kostbare bunte?“
Überrascht blicke ich sie an. „Auf diese Idee bin ich noch nie gekommen! Aber soviel ich weiß, besaß Ingeborg nur diese eine. Sie hatte auch kein Schließfach bei der Bank, wo edler Schmuck drin gewesen sein könnte.“
*
Etwa eine halbe Stunde später klingelt es an der Wohnungstür. Ich erwarte niemanden und bitte Sonja, mitzukommen. Durch den Spion sehe ich einen Mann mittleren Alters und eine etwas jüngere Frau. „Wer ist da?“, rufe ich durch die Tür.
„Rechtsanwalt Müller“, antwortet die männliche Stimme. Ich habe keine Ahnung, wer die beiden sind, und öffne nur mit vorgelegter Türkette. „Darf ich fragen, was Sie wünschen?“
„Frau Born, dies ist meine Mandantin, Frau Natalie Breuer. Sie werden sie nicht kennen, aber sie ist mit Ihnen verwandt. Ihre Mutter war die vor zwei Jahren tödlich verunglückte Karola Breuer –“
In mir schrillen sämtliche Alarmglocken. Eine Tochter von Karola? Die tatsächliche Alleinerbin von Tante Ingeborg? Aber das kann nicht sein. Ich weiß es aus einem bestimmten Grund.
Wie gut, dass Sonja einen Meter hinter mir steht – und dass wir eine Geheimsprache haben. „Galwa'r heddlu“, flüstere ich ihr zu, woraufhin sie im Wohnzimmer verschwindet. Ich weiß, dass sie jetzt die Polizei anruft, denn darum habe ich sie auf Walisisch gebeten. Diese keltische Sprache ist unser Hobby.
Wer mögen die mutmaßlichen Betrüger sein? Auf jeden Fall scheinen sie eine Menge über Tante Ingeborg und deren Verwandtschaft zu wissen. „Wie sind Sie an meine Adresse gekommen?“, frage ich. „Sie war uns bekannt“, antwortet der Mann kurz angebunden.
Jetzt ist Sonja wieder bei mir. „Mae’r heddlu’n dod“, flüstert sie – die Polizei kommt. Ein Geistesblitz rät mir, in den Minuten bis zur Ankunft der Beamten möglichst viel aus dem Pärchen herauszulocken.
„Ich weiß nicht, was Sie beide möchten. Wahrscheinlich geht es um das Erbe der verstorbenen Ingeborg Breuer. In deren Wohnung war nichts Wertvolles –“
„O doch!“, protestieren alle beide zu meinem Entzücken.
„Was denn zum Beispiel? Nur Modeschmuck war da!“ Lieber Gott, denke ich, lass die beiden tatsächlich so dämlich sein, dass sie mir jetzt alles brav erzählen und Sonja als Zeugin mithört.
„Von wegen nur Modeschmuck!“ empört sich der Mann. „In ihrem Wohnzimmer standen drei Figuren. Die waren hohl und enthielten Juwelen. Schön verpackt, damit man nichts hörte, wenn man die Figuren bewegte. Damit wollte die Großtante meiner Mandantin die Kosten für ein Schließfach bei der Bank sparen –“
„Guten Tag!“, erklingt es vom Treppenhaus her. Zwei Polizisten nähern sich. Die mutmaßlichen Gangster versuchen zu fliehen, werden aber von ihnen festgehalten und gefesselt. In aller Eile erkläre ich den Beamten, worum es geht:
„Der Mann bezeichnet sich als der Anwalt der Frau. Diese ist angeblich die Großnichte der verstorbenen Ingeborg Breuer, nämlich die Tochter ihrer verstorbenen Nichte Karola. Dann wäre sie Ingeborgs Alleinerbin. Das kann aber nicht sein, denn ich weiß aus vielen Gesprächen mit Ingeborg, dass Karola keine Kinder bekommen konnte. Die Alleinerbin bin ich.“
*
Noch immer ganz aufgelöst sitzen Sonja und ich wieder auf dem Balkon. Wie ich inzwischen schon erfahren habe, handelt es sich bei dem „Anwalt“ und der „Großnichte“ um ein Pärchen aus Ingeborgs Umfeld.
„Sabine, wo sind denn jetzt diese drei Figuren? Du hast das meiste aus Ingeborgs Wohnung doch verkauft oder verschenkt?!“
„Ja, aber die drei Figuren zum Glück nicht! Sie sind hier! Komm, wir schauen sie uns an!“
Ich stelle alle drei auf einen Tisch. Tatsächlich lässt sich bei allen der Boden abschrauben. Atemlos ziehen wir den Inhalt heraus und entfernen die Verpackung. Zum Vorschein kommen glitzernde Juwelen und auch eine bunte Halskette aus edlen Steinen.
Mir wird plötzlich wehmütig zumute. „Armer Onkel Herbert! Er muss geglaubt haben, ich hätte diese Kette der Pflegerin geschenkt und dreißig Euro dafür gezahlt. Da kann ich schon verstehen, dass er tobte…“
Tröstend umarmt Sonja mich. „Sein Tod ist aber keinesfalls deine Schuld! Belaste dich nicht damit, versprich mir das!“
„Du bist so lieb! Und auch für deine Mithilfe soeben bin ich dir so dankbar. Ich möchte dir, Sonja, diese Halskette schenken!“
Sonja wird blass. „Auf keinen Fall, Sabine! Die ist doch viel zu wertvoll zum Verschenken!“
„Für eine gute Freundin ist nichts zu wertvoll. Aber wenn es dich beruhigt, dann können wir ja ausmachen, dass ich dir dafür dieses Jahr nichts zum Geburtstag und zu Weihnachten schenke.“
Mit diesem Vorschlag ist Sonja einverstanden. Strahlend und immer wieder dankend legt sie sich die Halskette an und betrachtet sich im Spiegel. Mir kommt Agata in den Sinn, die sich genauso über ihre – viel billigere – Kette freute. Schmunzelnd denke ich: „Tante Ingeborg war oft schwer erträglich, aber zumindest ihre beiden Halsketten lösen Glücksgefühle aus!“