Veröffentlicht: 28.03.2022. Rubrik: Persönliches
„Tante Elli“
Aus unerfindlichen Gründen fiel mir jetzt nach Jahrzehnten wieder einmal „Tante Elli“ ein.
Elli (in Wirklichkeit hieß sie anders) war kein Familienmitglied, sondern eine sogenannte Nenntante, die gute Freundin einer richtigen Tante von mir. Da sie Hunderte von Kilometern entfernt wohnte, beschränkte sich der Kontakt zunächst auf Briefe, und erst als junge Erwachsene fuhr ich einmal mit der Bahn zu ihr. Sie war damals schon etwa achtzig Jahre alt, pensionierte Lehrerin, unverheiratet und kinderlos.
Das Treffen mit Elli war nicht der einzige Grund meiner Reise gewesen; gleichzeitig wollte ich mit ihr zusammen ein Sprachen-Institut in ihrer Stadt besichtigen, dessen Direktorin sie gut kannte.
Alles klappte, und am Abend des ereignisreichen Tages verabschiedete ich mich mit herzlichem Dank von „Tante Elli“ und ging in mein Hotel zurück, musste ich doch am nächsten Morgen direkt nach dem Frühstück wieder mit der Bahn nach Hause fahren.
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Als ich dann an jenem Morgen im Speisesaal frühstückte und die letzten ruhigen Minuten vor dem Stress der Rückreise auskosten wollte, traf mich plötzlich fast der Schlag. „Tante Elli“ kam hereinspaziert und setzte sich an meinen Tisch!
Im Gegensatz zu meinem gesamten Umfeld – damals wie heute – hatte sie offenbar nicht gewusst, dass ich ein extremer Morgenmuffel bin. Sie muss geglaubt haben, mir etwas Gutes zu tun, indem sie beim Frühstück mit mir gepflegte Konversation führte und mich anschließend zum Bahnhof begleitete. Dafür nahm sie mit ihren rund achtzig Jahren alle Mühe auf sich.
Ich war damals zwar schon erwachsen, aber wohl noch nicht reif genug, um mit einer solchen Situation angemessen umzugehen. Vielmehr muss ich total biestig gewesen sein. Ich sehe Elli noch vor mir, wie sie, als ich schließlich im Zug saß und abfuhr, mit verständnislosem Gesichtsausdruck auf dem Bahnsteig zurückblieb.
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Danach hat sie dann lange nicht mehr geschrieben, und als sie es schließlich wieder tat, begründete sie ihr Schweigen mit „unter anderem“ irgendeiner Arbeit… Ich wusste nur zu gut, worauf sich dieses „unter anderem“ bezog!
Inzwischen hat „Tante Elli“ längst das Zeitliche gesegnet. Einerseits tut es mir heute leid, dass ich so fies war. Andererseits – „gut gemeint ist das Gegenteil von gut“! Wenn man sich abends herzlich von seinem Besuch verabschiedet hat, ist es nicht nur unnötig, sondern sogar falsch, morgens noch einmal unangemeldet in seinem Hotel aufzukreuzen. Allenfalls hätte Elli am Abend vorher fragen können: „Soll ich dir morgen früh noch bei der Abreise helfen?“ Was ich natürlich dankend abgelehnt hätte!