Veröffentlicht: 20.03.2022. Rubrik: Menschliches
Das Enkelkind
Von meinem Wohnzimmerfenster aus sehe ich zu der Klinik hinüber, in der mein Sohn Benny und meine Schwiegertochter Nina heute, wenn alles gut geht, zum ersten Mal Eltern werden.
Benny will mich sofort danach anrufen. Wie ich mich auf mein erstes Enkelkind freue! Es ist ein Mädchen. Als Zweitnamen soll es meinen Namen Rosemarie erhalten. Schade, dass mein Mann schon so früh tödlich verunglückt ist. Benny war damals erst zwei und kann sich nicht an ihn erinnern.
Da! Sehe ich richtig? Ist das tatsächlich Benny, der von der Klinik aus hierhin läuft? Ja! Um Gottes Willen, da muss etwas passiert sein! Oder ist nur sein Handy kaputt, sodass er nicht anrufen konnte?
Jetzt dreht sich schon sein Schlüssel in der Tür. Ich haste hin und sehe, als er eintritt, sein verstörtes Gesicht. „Benny! Was ist los? Ist das Kind da?“
„Ja. Aber es ist nicht meins! Ich lasse mich scheiden!“
Habe ich richtig gehört? „Nicht deins? Woher willst du das wissen?“
„Es ist farbig.“
Ich sinke auf einen Stuhl. Zwei Flashbacks ereilen mich.
*
Vor dreißig Jahren.
„Herr Doktor, darf ich Ihnen im Vertrauen etwas sagen?“
„Ja, natürlich, Frau Hofmann.“
„Bei der Geburt wird mein Mann ja draußen vor dem Kreißsaal warten. Wir halten beide nicht so viel von der neumodischen Idee, dass die Väter dabei sein sollen. Nun muss ich Ihnen etwas gestehen. Es könnte sein, dass er nicht der leibliche Vater ist. Ich hatte eine ganz kurze Affäre mit einem Ägypter… Sollte das Kind farbig sein, dann sagen Sie es ihm bitte. Ist es aber weiß, dann nicken Sie mir nur zu. Dann bin ich beruhigt.“
*
Vor zwanzig Jahren.
„Wie nett, Gitti, dass wir uns zum ersten Mal nach dem Abi wiedersehen. Zeig mal die Fotos von deiner amerikanischen Familie! Das da ist also dein Schwager mit Frau und Kind? Komisch, die Frau ist schwarz und das Kind ist weiß! Müsste es nicht zumindest braun sein?“
„Nein, es kommt vor, dass das Gen für die Hautfarbe eine Generation überspringt. Wenn das Kind später selber Kinder hat, sind die vermutlich farbig. – Rosi, was ist? Geht es dir nicht gut?“
*
Wieder im Jetzt. „Entschuldige, Benny, ich war geistig woanders. Mir ist etwas eingefallen, was ich verdrängt hatte. Lauf bitte sofort zu Nina und zu dem Kind zurück! Es ist deins! Die Hautfarbe hat es von seinem Großvater. Ich habe meinen Mann mit einem Ägypter betrogen. Er war dein leiblicher Vater.“
Geschockt starrt Benny mich an. „Wie hieß er? Lebt er noch?“, fragt er schließlich.
„Sein Vorname war Marik, den Nachnamen weiß ich im Moment nicht mehr. Ich habe ihn aber aufgeschrieben. Wenn ich die Notiz gefunden habe, kannst du ja nach ihm googeln. Aber jetzt geh bitte sofort zu Nina! Die Situation muss furchtbar für sie sein!“
Als Benny noch wie angewurzelt dasteht, ziehe ich kurzentschlossen meinen Mantel an. „Komm, ich gehe mit und erkläre ihr alles! Und wenn ihr mir sagt, wie die Kleine heißt, schenke ich euch eine Anzeige im ‚Tageblatt‘, in der ich euch zu ihrer Geburt gratuliere und schreibe, dass sie ihrem ägyptischen Opa gleicht. Damit die Leute nicht denken, sie sei ein Kuckuckskind…“