Veröffentlicht: 03.02.2022. Rubrik: Unsortiert
Die Ansichtskarte
Nach dem plötzlichen Tod der 70-jährigen Margot Althoff musste sich deren 40-jährige Nichte Camilla als einzige nahe Angehörige um alles kümmern, was in einer solchen Situation zu regeln ist. Zum Glück hatte Margot bei einem Bestattungsinstitut einen Vorsorgevertrag abgeschlossen, sodass Camilla im Grunde „nur“ den Haushalt auflösen musste.
Eigentlich hatte sie die Post sofort wegen Todesfalls an die Absender zurückgehen lassen wollen. Ihr Mann Fabian riet ihr jedoch, mit diesem Auftrag noch etwa zwei Wochen zu warten: „Vielleicht kommt noch etwas Wichtiges, was sofort erledigt werden muss.“
Drei Tage nach der Beisetzung lag in Margots Briefkasten eine bunte Ansichtskarte aus Italien ohne Absenderangabe. Camilla wusste, dass ihre Tante solche Karten sammelte und alle Bekannten stets um Urlaubsgrüße gebeten hatte. Neugierig las die Nichte den Text, der bis auf die Unterschrift in Großbuchstaben geschrieben war:
HALLO MARGOT, VIELE LIEBE GRÜSSE AUS NEAPEL SENDET DIR
Liam
Camilla nahm die Karte mit nach Hause und zeigte sie Fabian. „Wer mag dieser Liam sein? Hierzulande ist der Name doch noch gar nicht lange im allgemeinen Gebrauch. Der Schreiber ist also wohl noch ziemlich jung.“
„Oder er kommt aus dem englischsprachigen Raum“, meinte Fabian.
„Glaub ich nicht, dann hätte er Englisch geschrieben. Tante Margot war doch Englischlehrerin. Vielleicht ist es ein Sohn von Bekannten, dem sie Nachhilfeunterricht gegeben hat.“
„Jetzt sind aber keine Schulferien“, gab Fabian zu bedenken.
Camilla runzelte plötzlich die Stirn. „Mir fällt gerade ein: Auch vor rund 20, 30 Jahren gab es hier schon englische oder irische Vornamen. Warum nicht auch ab und zu einen Liam. Angenommen, dieser Liam ist schon erwachsen – könnte Tante Margot mit ihm ein Verhältnis gehabt haben?“
Jetzt musste Fabian schallend lachen. „Entschuldigung, aber diese Vorstellung ist einfach zu komisch – deine Tante mit einem Toyboy!“
„Ich finde das gar nicht lustig. Wenn alte Scheunen Feuer fangen, dann brennen sie lichterloh. Hoffentlich hat sie ihm nichts vererbt!“
*
Einige Tage später wurde Camilla, die jetzt mit Bangen der Testamentseröffnung entgegensah, in der Fußgängerzone von einer Frau angesprochen: „Verzeihung, sind Sie die Nichte von Margot Althoff?“
Camilla bejahte dies, und die Unbekannte fuhr fort:
„Dachte ich mir doch. Ich hab Sie vor Jahren mal bei ihr gesehen. Herzliches Beileid zum Tod Ihrer Tante!“
„Vielen Dank“, sagte Camilla und rätselte, wer die Dame war. Vermutlich eine von Margots vielen Bekannten.
„Ihre Tante war eine ganz Liebe. Deshalb machte man ihr auch immer gern eine Freude. Zum Beispiel mit Ansichtskarten. Die sammelte sie ja. Ich verschicke normalerweise keine mehr, weil ich fast gar nicht mehr mit der Hand schreibe. Wenn ich es muss, ist meine Schrift völlig unleserlich. Aber für Margot machte ich immer eine Ausnahme. Schade, meine letzte Karte hat sie wohl gar nicht mehr bekommen. Ich hatte sie extra in Großbuchstaben geschrieben, bis auf die Unterschrift, denn meinen Namen Liane kannte sie ja…“