Veröffentlicht: 27.01.2022. Rubrik: Menschliches
Mary aus Amerika
Anmerkung: Die beiden kurzen englischen Sätze am Schluss habe ich der Pointe wegen nicht übersetzt. Erforderlichenfalls bitte bei Google Übersetzer eingeben.
Als ich elf Jahre alt war, Anfang der 1960er, hatten wir in unserer Klasse im Mädchengymnasium einige Monate lang eine Mitschülerin aus den USA, Mary (Name geändert). Sie war die Tochter eines deutsch-amerikanischen Ehepaars, das nur für kurze Zeit mit Mary hierhin gekommen war. Naturgemäß sprach sie trotz ihres deutschen Nachnamens wesentlich besser Englisch als Deutsch.
Mary hatte eine Beeinträchtigung, von der ich nicht sagen kann, ob sie körperlich, geistig, seelisch oder alles zusammen war. Später hörte ich – ob es stimmt, weiß ich nicht –, dass die Arme als ganz normales Baby geboren wurde, aber als Kleinkind einen schweren Schock erlitt, als direkt neben ihr etwas explodierte und ihr Bruder dadurch ums Leben kam. Jedenfalls erschien sie uns Kindern „irgendwie komisch“, obwohl sie sehr nett war.
Kinder können grausam sein. Ausgerechnet Ursel (Name geändert), die selber eine (körperliche) Behinderung hatte, wollte ihrer Klassenkameradin Mary etwas wenig Nettes sagen und wahrscheinlich gleichzeitig mit ihrem Englisch glänzen. Das ging aber gehörig schief. Ich war nicht dabei und hörte erst einige Tage später davon. Damals musste ich sehr darüber lachen. Heute sehe ich es eher als Beweis dafür, dass es gnädig sein kann, nicht alles zu verstehen. Vielleicht ist Nichtverstehen manchmal sogar eine Art Schutzschild der Seele?
Ursel (mit einem dicken deutschen Akzent): You are a fool!
Mary: Please say it in English!