Veröffentlicht: 25.01.2022. Rubrik: Grusel und Horror
Der Erker
Eigentlich war Birtes Leben bisher bestens verlaufen. Mit ihren Eltern und ihrer Schwester verstand sie sich gut, sie war gesund – zumindest körperlich – und studierte jetzt im zweiten Semester Germanistik und Romanistik.
Trotzdem fühlte sie eine undefinierbare Last auf der Seele. Schon oft hatte sie versucht, den Grund herauszufinden. Zum Beispiel hatte sie ihre Mutter gefragt, ob sie als Kleinkind oder schon vor der Geburt etwas Traumatisches erlebt hätte. Der Mutter war nichts dergleichen bekannt.
Verliebt war Birte schon mehrmals gewesen, aber für eine echte Beziehung fühlte sie sich trotz ihrer zwanzig Jahre noch nicht reif. Sie hatte das Gefühl, dass sie zuerst das Rätsel lösen müsse.
Und dann sah sie zufällig in der Tagesschau irgendeinen Bericht aus einer ihr unbekannten Stadt in einem anderen Bundesland. Wie elektrisiert starrte sie plötzlich auf den Bildschirm. Das Haus hinter dem Reporter hatte einen Erker, und diesen Erker erkannte sie wieder!
In der ARD-Mediathek rief sie die Tagesschau-Ausgabe auf, um das Bild mit dem Erker genauestens anzuschauen. Ja, diesen Erker kannte sie! Auch der Rest des Hauses kam ihr jetzt bekannt vor. Dennoch war sie völlig sicher, nie im Leben in dieser Stadt gewesen zu sein.
Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Nie im Leben? In diesem Leben wohl tatsächlich nicht! Aber vielleicht in einem früheren?
Birte gab bei Google den Namen der Stadt ein und dazu das Wort „Erker“. Schon der vierte Treffer brachte sie fast um den Verstand:
Vor vierundzwanzig Jahren – also vier Jahre vor ihrer Geburt – war dort ein dreijähriges Mädchen namens Mona zu Tode gekommen, weil es aus einem Erkerfenster gestürzt war. Niemandem konnte ein Fehlverhalten nachgewiesen werden, sodass man von einem tragischen Unfall ausging.
„Mona?“, grübelte Birte. „Ist Monas Seele jetzt in mir? Und warum? Warum findet sie keinen Frieden? So ein tödlich verunglücktes Kleinkind müsste doch eigentlich sofort in den Himmel kommen. Vielleicht war es gar kein Unfall? Sondern Mord? Will Mona, dass ich den oder die Mörder überführe?“
*
Nach langem Googeln hatte Birte erfahren, dass Monas Mutter bei der Geburt verstorben war. Zwei Jahre später hatte der Vater wieder geheiratet, und kurz darauf war Monas Halbschwesterchen zur Welt gekommen. „Ich ahne es schon!“, rief Birte aus. „Die böse Stiefmutter! Wie im Märchen! Das Kind der Vorgängerin muss verschwinden!“
Aber offenbar hatte ja alles nach einem Unfall ausgesehen. Der Vater, die Stiefmutter und das Baby waren in der Wohnung, jedoch nicht im Erkerzimmer. Es war üblich, dass Mona dort allein spielte. Die Fenster waren dann immer fest verschlossen und lagen zudem so hoch, dass die Dreijährige sie nicht erreichen konnte. An jenem verhängnisvollen Tag jedoch musste Mona mehrere Gegenstände aufeinander gestapelt haben – was sie noch nie getan hatte – und zu einem der Fenster hochgeklettert sein.
Auch das allein, so die damaligen Ermittler, hätte noch nichts ausgemacht, wären die Fenster wie immer fest verschlossen gewesen. Vater und Stiefmutter hatten ausgesagt, dass dies auch diesmal so gewesen zu sein schien. Doch aufgrund eines technischen Defekts ließ sich eins der Fenster dennoch öffnen. Ein Experte bestätigte, dass dieser Defekt nicht ohne weiteres zu erkennen gewesen war. Somit wurde Monas Tod von der Polizei als Unfall eingestuft und ein Fremdverschulden ausgeschlossen.
„Mona!“, seufzte Birte. „Wenn es tatsächlich ein Unfall war, dann lass doch bitte ab von mir! Wurdest du aber ermordet und willst, dass ich dies aufdecke, dann gib mir bitte irgendein Zeichen!“
*
Zwei Tage später kam Birte der Gedanke, einmal nachzuforschen, was aus dem Vater, der Stiefmutter und der Halbschwester von Mona geworden war. Deren Namen waren in den ergoogelten Berichten zwar immer abgekürzt worden. Doch Birte kannte einige Tricks (weswegen sie sich selbst als „lebende Suchmaschine“ bezeichnete) und fand schließlich nicht nur die Namen, sondern auch sonst eine Menge heraus. Der Vater war inzwischen verstorben, die Stiefmutter dagegen lebte noch in der Stadt, offenbar allein. Monas Halbschwester wohnte inzwischen woanders.
Auch den Geburtsnamen der Stiefmutter erfuhr Birte. Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Nach erneutem Googeln wusste sie bald, warum. Einem Träger dieses seltenen Namens – offenbar einem Verwandten der Stiefmutter – gehörte eine Fensterfirma…
Birte hörte plötzlich alle Alarmglocken läuten. Hatte die Stiefmutter sich bei ihm informiert, wie man einen technischen Defekt herbeiführen kann, ohne bei der Polizei in Verdacht zu geraten?! Wenn ja: War er ein Mittäter? Oder hatte er nicht gewusst, was die Frau mit ihren Fragen bezweckte?
Birte war sicher, auf der richtigen Fährte zu sein. Nur wusste sie nicht, wie sie jetzt vorgehen sollte. Da half ihr der berühmte Zufall (oder war es Mona?!). Sie erhielt einen Anruf ihres Cousins Jan, von dem sie seit Jahren nichts mehr gehört hatte. Jan berichtete, dass er Polizist sei, vor kurzem eine Kollegin namens Tessa geheiratet habe und mit ihr umgezogen sei… in die Stadt, in der Monas Stiefmutter noch heute lebte!
Blitzschnell erkannte Birte, dass dies die Chance war. Sie erzählte Jan alles, und beide schmiedeten einen Plan.
*
Zum ersten Mal in ihrem jetzigen Leben war Birte in der Stadt, in der ihr früheres Ich gelebt hatte. Zusammen mit Jan und seiner Frau Tessa fuhr sie zur Wohnung von Monas Stiefmutter. Jan und Tessa waren in Zivil. Sie gingen unmittelbar hinter Birte her.
Auf Birtes Klingeln hin öffnete eine Frau mittleren Alters die Tür. Birte wurde in diesem Augenblick zu Mona und erkannte sie sofort. „Stiefmutter! Ich bin Mona, die durch dich aus dem Fenster fiel!“
Die Frau wurde kreidebleich. Dann keifte sie: „Was soll der Quatsch? Die ist doch tot! Die kannst du doch nicht sein!“
Jan und Tessa zückten ihre Dienstausweise und nahmen die Frau fest. Sie waren sehr zufrieden mit deren Reaktion, hatte sie doch nicht bestritten, dass das Kind durch sie aus dem Fenster gefallen war.
Beim Prozess stellte sich heraus, dass Monas Stiefmutter tatsächlich einen Verwandten wegen der Technik befragt hatte. Dieser war inzwischen verstorben, und die Angeklagte versuchte vergeblich, ihm die Hauptschuld an der Idee zuzuschieben. Im Übrigen konnte man ihr nachweisen, dass sie nicht etwa „nur“ gehofft hatte, das Kind würde das Fenster öffnen, sondern Mona sogar aktiv hinuntergeworfen hatte. Der technische Defekt hatte nur der Vortäuschung eines Unfalls gedient. Sie wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld.
Birte erfuhr dies telefonisch von Jan, als sie gerade draußen war. Nach dem Gespräch durchströmte sie eine nie gekannte Erleichterung, und sie hörte eine Stimme, die aus einer Wolke zu kommen schien und dem Säuseln eines Windhauchs ähnelte, leise sagen: „Danke, Birte!“