Veröffentlicht: 15.12.2021. Rubrik: Kürzestgeschichten
Der heilige Vi
Im deutsch-dänischen Grenzland haben die meisten Orte sowohl eine deutsche als auch eine dänische Namensform.
Südlich der Grenze ist der deutsche Name der „Hauptname“, nördlich der Grenze der dänische. Die jeweilige Minderheit benutzt dann den jeweils anderen Namen. So heißt Flensburg (D) bei den dänischen Südschleswigern Flensborg und umgekehrt Aabenraa (DK) bei den deutschen Nordschleswigern Apenrade.
Deutsch und Dänisch sind aber keinesfalls die einzigen Sprachen dieser Region, und so heißt zum Beispiel eine Stadt in Nordfriesland nicht nur Niebüll (deutsch) und Nibøl (dänisch), sondern auch Naibel (nordfriesisch). Nördlich des Ortes, auf der dänischen Seite der Grenze, liegt Tønder (dänisch) / Tondern (deutsch) / Tuner (nordfriesisch) / Tynne (sønderjysk). Diese Stadt kann also sogar mit vier Namensformen aufwarten.
Nicht-Grenzlandbewohnern schwirrt bei diesem Durcheinander der Kopf. So kam es, dass jemand, der aus dem südlichen Deutschland stammte und nur über sehr begrenzte Dänischkenntnisse verfügte, sich bei einem Treffen in Flensburg wunderte: „Hier leben doch nur wenige Katholiken. Wie kommt es dann, dass ein Ort ‚Sankt Vi‘ heißt? Und wer ist dieser heilige Vi überhaupt?“
Seine Gesprächspartner wussten zuerst nicht, was er meinte. Dann jedoch fragte einer von ihnen, ein Angehöriger der dänischen Minderheit in Südschleswig: „Hast du den Namen vielleicht in einem dänischen Text gelesen? Schrieb er sich so?“ Er kritzelte „St. Vi“ auf ein Blatt Papier.
Der Auswärtige bejahte dies. „Ach so“, lachte der dänische Südschleswiger, „jetzt weiß ich Bescheid. Die Abkürzung ‚St.‘ steht im Dänischen nicht für ‚Sankt‘, sondern für ‚store‘, auf Deutsch ‚große‘. Der deutsche Name von Store Vi ist Großenwiehe!“