Veröffentlicht: 29.11.2021. Rubrik: Grusel und Horror
Der sprechende Affe
Ein irrer Wissenschaftler hatte ein ehrgeiziges Projekt. „Wenn es stimmt, dass Affen nur deshalb nicht sprechen können, weil ihnen die menschlichen Sprechorgane fehlen“, sagte er, „dann müsste es doch möglich sein, ein Schimpansenbaby so umzuoperieren, dass sein Maul dem menschlichen Mund gleicht. Und dann müsste man den Schimpansen in einer Menschenfamilie aufziehen und abwarten, ob er deren Sprache übernimmt.“
Gesagt, getan. Ein junger Schimpanse, dem er den Namen Tim gab, wurde von ihm in einer komplizierten Operation „sprechfähig“ gemacht. Anschließend nahmen der Forscher und seine Frau ihn wie einen Adoptivsohn auf. Ihre eigenen Kinder waren bereits aus dem Haus und sagten ihnen deutlich die Meinung: „Das ist Tierquälerei! Tim wird nie ein Mensch werden, aber Schimpansen werden ihn auch nicht mehr als Artgenossen akzeptieren.“
Die Eheleute ließen sich dadurch nicht beirren. Sie behandelten den Schimpansen wie ein Menschenbaby und redeten unentwegt mit ihm. Eines Tages bekam der Wissenschaftler auf einer Vortragsreise einen Anruf seiner völlig verzückten Frau: „Tim hat ‚Mama‘ gesagt!“
Von da an wurde der Affe zur Sensation. Sein Wortschatz vergrößerte sich von Tag zu Tag, und auch seine Aussprache ließ nichts zu wünschen übrig. Der Forscher wähnte sich bereits im Besitz des Nobelpreises.
Leider dauerte es nicht lange, bis die düsteren Prophezeiungen seiner erwachsenen Kinder sich bewahrheiteten. Tim wurde unglücklich. Gern hätte er mit den Nachbarskindern gespielt, doch die wollten nichts mit einem Affen zu tun haben, auch nicht mit einem sprechenden. Als er andererseits bei einem Zoobesuch Schimpansen entdeckte („Die sehen ja so aus wie ich!“) und mit ihnen Kontakt aufnehmen wollte, liefen sie in einen anderen Teil des Geheges und hatten offenbar Angst vor ihm.
Wenn der Forscher und seine Frau etwas besprachen, wovon Tim nichts mitbekommen sollte, redeten sie Englisch miteinander. So auch eines Abends, als Tim schon im Bett war (er hatte ein richtiges Kinderzimmer).
„So geht es nicht weiter“, sagte der Wissenschaftler. „Mein Ziel habe ich ja erreicht. Ich habe bewiesen, dass Affen, wenn man sie dahingehend operiert, sprechen lernen können. Da Tim aber nicht mit der Situation zurechtkommt, sollte man ihn einschläfern.“
Der Frau des Forschers tat dies leid, aber sie verstand das Argument ihres Mannes. Gemeinsam beschlossen sie, dass er unverzüglich in sein Labor im Nebenhaus gehen, die tödliche Spritze holen und sie dann dem schlafenden Tim verabreichen sollte.
Etwa eine halbe Stunde später war er wieder da. Mit der Spritze in der Hand wollte er, begleitet von seiner Frau, gerade die Tür zu Tims Zimmer öffnen, als diese von innen aufgerissen wurde.
„Ich weiß alles!“, schrie Tim und entriss ihm die Spritze.
„Aber… woher… wir haben doch Englisch gesprochen…“, stammelte der Forscher.
„Ja, da staunt ihr, was? Wir Tiere können zwar nicht sprechen, außer wenn uns das Maul verstümmelt wird. Aber wir fühlen, was die Menschen wollen, ungeachtet ihrer Sprache.“
Dann ging alles ganz schnell…
Am nächsten Morgen erhielt die Polizei einen entsetzten Anruf aus der Wohnung des Forschers. Er kam von der Putzfrau des Ehepaars. Auf dem Fußboden lägen die Leichen ihrer Arbeitgeber, und deren Affe sei weg. Die Beamten fanden eine Spritze, mit der offenbar der Mann getötet wurde, während die Frau erwürgt worden war. Beide Tötungen mussten von dem Affen verübt worden sein.
Überregional wurde vor Tim gewarnt, und er wurde zum Abschuss freigegeben. Manchmal glaubte jemand, in den dichten Wäldern im Umkreis der Stadt einen Schimpansen gesehen zu haben. Doch man fand ihn nie.