Veröffentlicht: 02.05.2018. Rubrik: Spannung
Oma Else und der Serienmörder
Die Rentnerin Else Schulz aus Essen liebte Internetforen für Hobbydetektive. Allerdings reichten ihre Computerfähigkeiten nur zum Surfen im Netz und zum E-Mailen, sodass sie sich mit stillem Mitlesen begnügen musste. Sie hatte ihren Enkel Nico gebeten, ihr zu zeigen, wie man sich registrieren und Beiträge einstellen konnte, doch er hatte nur gesagt: „Lass da ma die Finger von, Omma.“
Elses strafender Blick hatte ihn daran erinnert, dass sie, deren Mutter einst aus Hannover nach Essen gekommen war, den Ruhrpott-Slang nicht schätzte. Auf Hochdeutsch hatte er hinzugefügt: „Dabei kann man viel Ärger bekommen. Wenn man zum Beispiel jemanden verdächtigt. Überlass die Verbrecherjagd lieber der Polizei.“
„Aber wenn ich mir nun ganz sicher bin? Kann ich das denn nicht zumindest der Polizei schreiben?“
„Meinetwegen“, hatte Nico geseufzt, „aber mach dir nicht zu viele Hoffnungen, dass sie deinen Tipps nachgeht.“
*
Zu Elses Lieblingsthemen in ihrem bevorzugten Forum gehörte der Serienmörder John Smith aus dem nordenglischen York. Er hatte seine Laufbahn als Mörder und Bankräuber im Heimatland begonnen und danach in den verschiedensten Staaten der Welt seine blutige Spur hinterlassen, ohne auch nur einmal gefasst zu werden.
Etwa ein halbes Jahr, nachdem Else zum ersten Mal von John Smith gelesen hatte, stand ein neuer Artikel über ihn in ihrer Tageszeitung. Laut diesem war eine Frau sicher, ihn in seiner Geburtsstadt York gesehen zu haben. „Ich habe sein Gesicht genau erkannt“, hatte sie deutschen Reportern gesagt. „Der Saum von seinem Mantel war an einer Stelle eingerissen. So als ob er damit irgendwo hängengeblieben wäre.“
Else dachte nach. Und dachte noch schärfer nach. Und vertiefte sich an ihrem Computer in mehrere Wikipedia-Artikel. Dann rief sie Nico an.
„Omma… äh, Oma…, ist es wichtig? Ich bin in größter Eile. Heute ist schon der 10. Juli, und bis morgen muss ich meine schriftliche Prüfungsarbeit für die Uni fertig haben.“
„Na, dann viel Glück.“ Sie legte auf. Vielleicht, dachte sie, ist es ganz gut, wenn Nico nichts weiß. Er würde mir bestimmt davon abraten.
Im Internet suchte sie die E-Mail-Adresse der Polizei Essen. Dann entwarf sie ein Schreiben. Erst mit dem fünften Entwurf war sie zufrieden. Sie las die Mail noch einmal genau durch und schickte sie dann ab.
*
Abends meldete sich Nico per Telefon. „Oma, entschuldige meine Eile heute Nachmittag. Im Moment habe ich etwas Zeit. Was wolltest du mir denn sagen?“
Else lachte. „Ist schon alles erledigt. Ich habe der Polizei Essen eine Mail geschickt mit einem Hinweis, wo sich der Serienmörder John Smith aufhalten könnte.“
„Du hast WAS?!?“
„Ja, du hast schon richtig gehört. Jetzt bin ich gespannt, was passiert. Wenn sie den Kerl verhaften, müsste ich doch eine Belohnung bekommen, oder? Könntest DU dich darum kümmern? Ich gäbe dir auch zwanzig Prozent von der Belohnung.“
*
Zwei Tage später saß Else vorm Fernseher, als Nico anrief. „Oma? Kann ich mal eben vorbeikommen? Ich muss dir was zeigen!“
Als ihr Enkel eintrat, traute sie ihren Augen nicht. Nico trug in der einen Hand einen bunten Sommerstrauß und in der anderen ein Blatt, bei dem es sich um eine ausgedruckte Internet-Meldung zu handeln schien. Die Blumen gab er seiner Großmutter mit den Worten: „Ich gratuliere der Superdetektivin!“ Dann überreichte er ihr das Blatt. Als Else es gelesen hatte, vergaß sie das Hochdeutsch ihrer hannoverschen Mutter und sagte nur: „Boah!“
Unter der Titelzeile SERIENMÖRDER GEFASST – ESSENER RENTNERIN GAB HINWEIS stand dort:
„Der seit zehn Jahren weltweit gesuchte Serienmörder John Smith, geboren in York (Großbritannien), wurde aufgrund des Hinweises einer Essener Rentnerin festgenommen. Sie hatte eine Meldung gelesen, wonach Smith angeblich von einer Frau in seiner Heimatstadt York erkannt worden war. Die Frau hatte deutschen Reportern gegenüber den eingerissenen Mantelsaum des Mannes erwähnt. Dies verwunderte die Essenerin. Sie mailte an ihre örtliche Polizeidienststelle, dass im Juli niemand in der hiesigen Klimazone, zu der auch das englische York gehöre, einen Mantel tragen würde. Ob die Journalisten, die die Meldung weiterverbreitet hatten, beim Ortsnamen York wohl fälschlich an die Geburtsstadt des Mannes gedacht hätten, während in Wirklichkeit eine Stadt auf der Südhalbkugel der Erde gemeint gewesen sei, nämlich York in Australien? Dort sei jetzt Winter. Das Klima in jener Gegend sei zwar mild, aber doch manteltauglich. Die Essener Polizei verständigte ihre Kollegen in Perth, der Hauptstadt des Bundesstaates Western Australia, in dem York liegt. Diesen gelang es, den Gesuchten aufzuspüren. Ob sein Mantelsaum inzwischen geflickt wurde, ist nicht bekannt.“