Veröffentlicht: 04.04.2018. Rubrik: Menschliches
Fräulein Lina
Die 90-jährige Lina Peters legte Wert auf die Anrede „Fräulein“ und ärgerte sich darüber, dass Fremde ihr kaum noch diesen Gefallen taten. „Jeder soll wissen, dass ich ohne Mann durchs Leben gekommen bin!“
Dank einer Haushaltshilfe und einem Pflegedienst konnte Lina noch immer in ihrer Wohnung leben. Bis zu ihrem Ruhestand hatte sie als Kindergärtnerin gearbeitet.
Nicht nur ihre früheren Schützlinge, sondern auch deren Kinder und sogar Enkel hielten Kontakt zu „Fräulein Lina“, besuchten sie und schütteten ihr so manches Mal ihr Herz aus. Sie war sozusagen die Kummerkastentante der ganzen Kleinstadt.
Wenn Lina mit ihren Besuchern sprach, war sie geistig immer noch voll da, nahm Anteil und gab Ratschläge (aber nie ungebetene). Sobald die Gäste allerdings wieder gegangen waren, vergaß sie, wer sie besucht hatte und worüber geredet worden war.
Eines Tages schellte bei Lina ein junger Mann, der Sohn von einem ihrer Kindergartenkinder. „Ach, da ist ja Jonas Born! Nett, dass du mal wieder vorbeikommst. Wo hast du denn deinen Hund?“
Jonas war erstaunt, dass die 90-Jährige sich nicht nur an ihn, sondern auch an sein Tier erinnerte. „Wotan habe ich heute bei meinem Vetter gelassen. Der hat einen Bauernhof.“
Höflich versuchte Lina, ihre Erleichterung zu verbergen. Der pechschwarze Riesenzottel war ihr immer ein Graus gewesen.
Jonas überreichte ihr Schokolade – gerührt sah sie, dass er sich ihre Lieblingssorte gemerkt hatte –, und beide nahmen im Wohnzimmer Platz. Dort kam der junge Mann ohne Umschweife auf sein Anliegen zu sprechen:
„Fräulein Lina, Sie haben doch immer so gute Ratschläge. Ich habe meine Traumfrau kennengelernt und bin glücklich mit ihr. Es gibt nur ein einziges Problem. Sie mag keine Hunde! Sie würde mich nur heiraten, wenn ich Wotan weggäbe!“
Sachlich fragte Lina: „Und? Tätest du das?“
Jonas zuckte mit den Schultern.
„Du musst dich fragen“, sagte Lina, „ob du diese Frau wirklich liebst. Wenn ja, dann wirst du dich ihr zuliebe von dem Hund trennen, denn ein Ehepartner ist wichtiger als ein Haustier. Kann Wotan nicht ganz zu deinem Vetter ziehen? So ein Bauernhof ist für ihn doch schöner als eine Stadtwohnung. Und du könntest ihn dort ab und zu besuchen.“
*
Eine Woche später klingelte es erneut an Linas Tür. Diesmal war es eine junge Frau mit einem Blumenstrauß, die sich als Natascha Fischer vorstellte. „Darf ich ‚Fräulein Lina‘ zu Ihnen sagen? Sie kennen mich wahrscheinlich noch nicht, aber mein Vater, Achim Fischer, war bei Ihnen im Kindergarten. Ich habe gehört, dass Sie immer so gute Ratschläge haben…“
Lina bat ihre Besucherin ins Wohnzimmer und stellte die Blumen in eine Vase. Dann begann Natascha:
„Ich habe meinen Traummann gefunden. Wir möchten heiraten. Es gibt nur ein einziges Problem. Er hat einen Hund, und ich kann Hunde nicht ausstehen!“
Irgendwie kam Lina dies bekannt vor, aber sie erinnerte sich nicht, woher. Nachdenklich fragte sie: „Haben Sie eine Allergie oder ein anderes medizinisches Problem, weswegen Sie Hunde nicht ertragen?“
„Nein, ich kann die Viecher bloß nicht leiden.“
„Sie müssen sich fragen“, sagte Lina, „ob Sie Ihren Freund wirklich lieben. Wenn ja, dann werden Sie auch seinen Hund zumindest tolerieren können. Er gehört zu seinem Charakter. Ist Ihnen das nicht möglich, sollten Sie diesen Mann lieber nicht heiraten.“
*
Natascha schellte an Jonas‘ Tür. Als er öffnete, ohne dass wie üblich ein schwarzes Ungetüm neben ihm stand, fragte sie überrascht: „Wo ist denn Wotan?“
„Weg.“
Verständnislos betrat sie die Wohnung. „Wie – weg?“
„Er lebt jetzt auf dem Bauernhof meines Vetters. Das ist besser für ihn und für uns.“
Natascha brach in Tränen aus. Schluchzend hielt sie Jonas einen Einkaufsbeutel hin: „Ich hätte ihn doch akzeptiert! Ich hatte es dir gerade sagen wollen! Hier, ich habe Hundeleckerlis für ihn gekauft…“
*
Zwei Jahre später entschloss sich Lina Peters, in ein Seniorenheim überzusiedeln, und teilte ihre neue Anschrift in der Lokalzeitung mit.
Bald darauf klopfte es an ihrer Tür. Erstaunt schaute sie die Hereinkommenden an.
„Fräulein Lina, kennen Sie uns noch? Ich bin Jonas Born, und dies ist meine Frau Natascha, geborene Fischer. Wir waren beide mal bei Ihnen – aber nicht gleichzeitig –, um Sie um Ihren Rat zu bitten. Ja, und dies ist unsere kleine Tochter. Wir haben sie Lina genannt, nach Ihnen, denn ohne Sie gäbe es sie wohl nicht…“