Veröffentlicht: 14.03.2018. Rubrik: Fantastisches
Emma im Zauberland
Wer heute in Deutschland Emma heißt, ist in der Regel entweder sehr alt oder sehr jung. Unter den mittleren Jahrgängen gibt es kaum Emmas, denn zur Zeit ihrer Geburt gehörte der Name zwischen Flensburg und Füssen zu den unmodernsten Vornamen überhaupt.
Eines der ganz wenigen Mädchen, die Anfang der 1960er Jahre hierzulande Emma hießen, lebte im Ruhrgebiet. Diese Tatsache stellte für Emma Seiffert eine zusätzliche Härte dar. Die in dieser Region übliche Aussprache von „Oma“ als „Omma“ führte dazu, dass ihre Mitschülerinnen Inge und Helga, die in der Klasse tonangebend waren, sie stets als „Omma Emma“ hänselten.
Glücklich war Emma eigentlich nur in den Sommerferien, die sie, ein Einzelkind, jedes Jahr mit ihren Eltern auf Juist verbrachte. „Töwerland“ – Zauberland – nennen die Einheimischen die langgestreckte ostfriesische Insel mit dem breiten Sandstrand, und auch Emma verspürte dort stets eine nicht beschreibbare Magie, die sie ihren Kummer für einige Wochen vergessen ließ.
Besonders liebte sie die Möwen. Es waren nicht die kleinen Lachmöwen, die man auch an Binnengewässern beobachten kann, sondern die stattlichen Silber- und Heringsmöwen der Küste.
Eines Tages lag die zwölfjährige Emma im Sand neben dem Strandzelt (Strandkörbe gab es damals auf Juist noch nicht), in welchem ihre Mutter einen Krimi las. Ihr Vater war schon früh zu einem Schiffsausflug aufgebrochen. Das Sonnenlicht flimmerte.
„Emma!“ Eine fremde, sehr klangvolle Stimme sagte ihren Namen. Überrascht sah Emma eine Möwe vor sich stehen, die noch größer und schöner war als die übrigen und deren Federkleid golden glänzte.
„Du kannst ja sprechen! Wer bist du? Woher weißt du, wie ich heiße?“
„Wer ich bin, darf ich dir nicht sagen. Aber ich kenne dich und deinen Kummer. Du leidest unter deinem Vornamen.“
„Und wie! Die Inge und die Helga –“
„Ärgere dich nicht über diese dummen Gören“, unterbrach die Goldgefiederte sie. „Denk lieber an den Dichter Christian Morgenstern. Ihm gefiel dein Name sehr, denn er dichtete ein ‚Möwenlied‘, das mit den Worten beginnt: ‚Die Möwen sehen alle aus, als ob sie Emma hießen‘.“
„Ja, das hab ich mal gelesen. Aber ich dachte, er macht sich lustig über den Namen.“
„Auf keinen Fall! Die letzte Strophe lautet: ‚O Mensch, du wirst nie nebenbei / der Möwe Flug erreichen. / Wofern du Emma heißest, sei / zufrieden, ihr zu gleichen.‘“
„Soll das bedeuten, ich gleiche euch Möwen, weil ich Emma heiße?“, staunte das Mädchen.
„Ja. Fliegen kannst du zwar nicht. Aber dein Geist kann sich aufschwingen. Und denke immer daran: Nichts auf der Welt bleibt, wie es ist. Du wirst dich noch wundern.“
„Und woher weißt du das?“, fragte Emma.
„Auch das darf ich dir nicht sagen. Nur so viel: Du bist hier im Zauberland.“
„Heißt ihr Möwen tatsächlich alle Emma?“
„Nein. Der Dichter schreibt ja ‚als ob‘. In Wirklichkeit haben Möwen keine Namen. Aber Christian Morgenstern liebte sowohl Möwen als auch den Namen Emma, und daher schuf er eine Verbindung zwischen ihnen.“
„Wie redet ihr euch denn an, wenn ihr keine Namen habt?“
Die Möwe lachte. „Ich merke schon, du willst herausbekommen, wer ich bin! Wie ich schon sagte: das darf ich dir nicht sagen. Für Menschen ist das Zauberland eigentlich verschlossen. Sogar für die Juister Einheimischen. Sie nennen ihre Insel zwar Töwerland, aber damit meinen sie nur die schöne Landschaft. Das echte Zauberland befindet sich in einer anderen Dimension. Ich habe dich nur deshalb für eine kurze Zeit hineingelassen, weil du mir leid tatest. Aber jetzt kannst du mit dem, was du von mir gehört hast, frei und mutig in deiner irdischen Umgebung leben. Mach’s gut!“
Dann flog sie fort, und Emma schaute ihr nach, bis sie nicht mehr zu sehen war.
„Emma, wach auf! Du hast über zwei Stunden geschlafen!“, hörte sie ihre Mutter sagen.
*
Rund fünfzig Jahre später saß Emma, die inzwischen einen anderen Nachnamen trug, im Restaurant eines Kaufhauses. Noch immer lebte sie in ihrer Geburtsstadt. Neben ihr schlummerte im Kinderwagen ihr erstes Enkelkind.
Plötzlich stutzte sie. Die beiden Frauen am Nebentisch – waren das nicht…? Verstohlen schaute sie zu ihnen hinüber und lauschte ihren Stimmen. Nach einigen Minuten war sie sich sicher. Sie winkte die Kellnerin herbei, bezahlte und ging dann mit dem Kinderwagen zu den beiden. „Hallo Inge, hallo Helga, kennt ihr mich noch?“
Die Angesprochenen blickten sie ratlos an. „Ich bin’s, Emma, eure frühere Mitschülerin, die ihr immer gemobbt habt: ‚Omma Emma‘!“
„Ach ja, das ist schon so lange her“, sagte Helga uninteressiert. Emma wartete ein paar Sekunden auf ein Wort des Bedauerns, aber es kam keins.
„Jetzt bin ich tatsächlich Oma!“, sagte sie und wies auf das Baby. „Habt auch ihr schon Enkel?“
„Ja, schon fünf“, antwortete Helga. „Und ich sieben!“, prahlte Inge.
„Naja“, meinte Emma unbeeindruckt, „wenn man nach der Schulzeit sofort mit dem Kinderkriegen anfängt, ist das ja auch möglich. Hoffentlich ist keine eurer Enkelinnen nach euch benannt worden. Solche Oma-Namen darf man Babys nicht antun. So, ich muss jetzt mit der Kleinen weiter. Komm, Emmalein.“