Veröffentlicht: 15.04.2018. Rubrik: Spannung
Verschwunden (Teil 2)
Bettinas Mutter sah den Polizisten böse an, setzte sich aber wieder hin und schwieg. Nun fragte der Polizist nach Tims Gewohnheiten. Vielleicht habe er das schon öfter gemacht, einfach über Nacht wegzubleiben, ohne Bescheid zu sagen?
Bettina und ihre Eltern verneinten die Frage gleichzeitig.
"Es ist ja für einen 19jährigen nicht gerade unnormal, mal die Nacht auswärts zu verbringen", erläuterte der Polizist seine Ansicht dazu.
"Das hat er noch nie gemacht. Und wenn, hätte er Bescheid gesagt."
"Das denken die meisten Eltern, Herr.... ", der Polizist blätterte in seinen Unterlagen," "Herr Kallmann. Aber es kommt trotzdem immer wieder vor, dass junge Leute etwas tun, was die Eltern nie von ihnen erwartet hätten."
Dann notierte er sich, welche Kleidung Tim am Samstagabend getragen hatte und fragte Bettina, ob ihr, als sie zusammen mit Tim in der Disco war, vielleicht etwas Ungewöhnliches aufgefallen sei.
Bettina überlegte. „Ich habe ihn irgendwann an der Bar in einem Gespräch mit jemand gesehen, den ich nicht kannte.“
„Können Sie sich erinnern, wie derjenige ausgesehen hat?“
„Er war ungefähr in unserem Alter, dunkle Haare, dunkel gekleidet. Mehr weiß ich nicht.“ Bettina überlegte. „Und als wir nach Hause gefahren sind, habe ich jemanden über die Felder laufen sehen. Der lief vor uns weg. Dunkel gekleidet und schlank. Ich dachte erst, das sei Tim gewesen.“
Der Polizist machte sich weitere Notizen.
„Wir werden, sofern Tim in den nächsten Tagen nicht wieder auftaucht, einen Artikel in die Zeitung setzen und die Bevölkerung, sprich Zeugen, um Mithilfe bitten. Vielleicht hat ihn jemand nach dem Discobesuch ja noch gesehen und kann uns weiterhelfen.“
Auf dem Nachhauseweg schwiegen alle.Zuhause angekommen, lief Bettina in ihr Zimmer, warf sich aufs Bett und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Tim sich nicht melden würde, wenn er noch lebte. Was war nur passiert?
Am Wochenende darauf fing Bettina mit ihrem Sommerjob als Kellnerin an. Unter anderen Umständen hätte ihr die Arbeit und der Kontakt mit vielen Menschen Freude gemacht, jetzt war ihr fast alles gleichgültig. Ihre Eltern waren, genau wie sie, traurig und mutlos. Harald versuchte, ihr Hoffnung zu machen, doch das brachte auch nicht viel. Er stellte Überlegungen an, wo Tim vielleicht sein könnte, doch Bettina schüttelt über seine Ausführungen nur den Kopf.
„Glaub mir, so ist Tim nicht. Er würde es sich nicht irgendwo in Spanien oder so gutgehen lassen und uns im Ungewissen lassen. Außerdem hat er doch gar kein Geld.“
Dann schwiegen beide und Bettina dachte daran, wie glücklich sie noch vor kurzer Zeit gewesen war. Jetzt hatte sich ein dunkler Schatten auf ihr Leben gelegt und Bettina ahnte, dass dieser für sehr lange Zeit nicht mehr verschwinden würde.
Der Anruf kam, als im Restaurant Hochbetrieb herrschte. Der Chef winkte Bettina unwirsch zu sich heran und drückte ihr das Telefon in die Hand.
„Sag deiner Mutter, sie soll nächstens nicht gerade während der Stoßzeit anrufen.“
Bettina nahm mit einem unguten Gefühl den Telefonhörer in die Hand. Ihre Mutter würde sie mit Sicherheit nicht bei der Arbeit stören, wenn es keinen wichtigen Grund gab.
Dann war sie überrascht, wie neutral die Stimme ihrer Mutter klang.
„Die Polizei hat ein ausgebranntes Auto gefunden. Mit einer Leiche. Sie glauben, es ist Tim.“ Bettinas Mutter holte tief Luft. „Ich glaub das aber nicht. Die Leiche ist bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.“
Bettinas Hand, die den Telefonhörer hielt, begann zu zittern.
"Also wir müssen nicht hinkommen, da die Leiche durch Inaugenscheinnahme nicht mehr zu identifizieren ist", fuhr ihre Mutter fort. Dann schwieg sie und Bettinas Vater war am Apparat.
"Es soll eine Untersuchung stattfinden", sagte er, "aber ob die Identität dadurch geklärt werden kann, weiß man noch nicht. Das Einzige, was feststeht, ist, dass diese... Sache wohl zur selben Zeit passiert ist, als Tim verschwunden ist."
"Deswegen muss er es ja nicht sein ", warf Bettina ein.
" Nein, eben. Wir müssen erstmal abwarten."
Als Bettina nach Hause kam, erfuhr sie noch weitere Einzelheiten über den unbekannten Toten. Ein Polizist hatte ihren Eltern erklärt, dass der Tod nicht in Zusammenhang mit dem ausgebrannten Auto stehen müsse. Es könne genauso gut sein, dass er schon tot war, als er in das Auto gelegt und das Auto angezündet wurde. Ein Verbrechen sei nicht auszuschließen.
Aber wenn dieser Tote gar nicht Tim war?
Die Dinge hingen in der Luft. Es gab noch keine neuen Erkenntnisse. Bettina dachte manchmal darüber nach, "dass ein Verbrechen nicht auszuschließen sei." Wer hätte Tim etwas antun wollen?
Es wurde September. Bald würde Bettinas Studium beginnen und sie würde nur noch ab und zu am Wochenende in ihrer Heimatstadt kellnern. Sie dachte gerade darüber nach, dass sie eigentlich froh war, alles hinter sich zu lassen, – sogar Harald, weil sie alles nur an ihren verschwundenen Bruder erinnerte – als eine Gruppe von drei lärmenden jungen Männern, die an einem Tisch im Außenbereich Platz nahm, ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
„He, Bedienung!“ rief einer der drei und wedelte gebieterisch mit der Hand in ihre Richtung.
„Angeber“, dachte Bettina und ging betont langsam zum Tisch.
„Die Herren möchten bestellen?“ fragte sie dann.
Die „Herren“ waren alle etwa Anfang zwanzig. Zwei hatten dunkle Haare, einer war blond, die zwei dunklen Typen waren schlank, der Blonde war eher kräftig gebaut. Bettina fiel bei ihrem Anblick die dunkel gekleidete, schlanke Gestalt wieder ein, die sie an dem Samstagabend beim Nachhauseweg aus dem Auto über die Felder hatte laufen sehen. Niemand hatte sich an diesen Mann erinnern können, genauso wenig wie an den Mann aus der Disco, der mit Tim ein offenbar hitziges Gespräch geführt hatte. Zumindest hatte sich kein Zeuge gemeldet, der die beiden Männer gesehen haben wollte. Aber vielleicht handelte es sich auch um dieselbe Person? Der Gedanke war ihr bis jetzt nicht gekommen.
„Also, ich hätte gerne ein Bier“, sagte der erste und musterte Bettina anzüglich von oben bis unten. Bettina verdrehte innerlich die Augen. Solch ein Blödmann, der glaubte, Bedienungen seien Freiwild, hatte ihr gerade noch gefehlt.
„Sehr wohl“, sagte sie und wandte sich an die anderen beiden. „Und was darf ich Ihnen bringen?“
In dem Moment, als sie sich umdrehte, um diese Frage zu stellen, verabreichte ihr der Mann, der zuerst gesprochen hatte, einen Klaps auf den Hintern. Bettina drehte sich wütend um und funkelte ihn an.
„Würden Sie das bitte sein lassen, sonst rufe ich den Chef!“
„Angelo, benimm dich!“, rief der Blonde, kräftig Gebaute, gröhlend. „Bist hier ja nicht zuhause!“
„Nee, eben Gottseidank nicht!“ Der mit Angelo angeredete Mann lachte und hob mit gespieltem Bedauern die Hände.
„Tut mir leid, Süße.“
Bettina atmete tief durch. „Schon gut“, sagte sie dann. Sie hatte keine große Lust auf irgendwelches Theater und erst recht nicht dazu, den Chef zu rufen. Er würde ihr zwar zweifelsfrei helfen, aber sie vermutlich dann nach Hause schicken und der Abend wäre ohne Verdienst und ohne Trinkgeld gelaufen. Das wollte sie nicht riskieren.
Angelo schien sich nun auch zusammenzureißen. Er ließ seine Hände auf dem Tisch liegen und Bettina konnte in Ruhe die Bestellung der beiden anderen aufnehmen.
Als sie eine Viertelstunde später die bestellten Getränke zum Tisch balancierte, schnappte sie schon aus der Entfernung einige Wortfetzen auf. Zu ihrer großen Verwunderung verstand sie „weg“, „hat sich erledigt“ und „Kallmann“.
Ihr Herz begann wild zu klopfen.
Ende des 2. Teils