Veröffentlicht: 18.03.2018. Rubrik: Historisches
Hugos Freundin
Diese Geschichte gehört zu einem Geschichtenkranz rund um "Matze, das Findelkind" (nicht chronologisch geschrieben. Matze taucht als Baby und als Jugendlicher auf sowie handeln einige Geschichten von seinen Adoptiveltern, noch ehe sie ihn bei sich aufnehmen):
Dazu gehören folgende, auch hier eingestellte Geschichten:
Matzes Mutter
Das Findelkind
Brigitte
Ergebnisse liegen vor
Weihnachten mit Hugo
Mai 1976
Die Schule war endlich aus an diesem schönen, sonnigen, fast schon heißen Tag und die Schüler strömten aus dem Gebäude auf die Straße. Matze hatte keinen Sinn für das schöne Wetter. Er trottete, ganz in seine Gedanken versunken, vorwärts. In seiner Schultasche steckte das Heft mit der letzten Englischarbeit, das er heute zurückbekommen hatte. In fetten Buchstaben hatte der olle Bintner, der nun schon seit dem letzten Schuljahr die Klasse in Englisch unterrichtete, "Mangelhaft!!!" darunter geschrieben und als ob die drei Ausrufungszeichen noch nicht reichten, um seiner Empörung Ausdruck zu verleihen, prangten unter der Note noch die drei Worte "Unterschrift des Vaters", ebenfalls mit drei Ausrufungszeichen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Wütend gab Matze einem Stein, der vor ihm auf der Straße lag, einen Tritt.
Der Stein flog ein Stück durch die Luft, kam wieder auf der Straße auf, hüpfte dann noch einmal hoch und traf ein Mädchen, das in einiger Entfernung vor ihm ging, an ihrem nackten linken Bein unter ihrem Sommerrock, bevor er wieder aufsetzte und liegenblieb. Besonders schmerzhaft konnte das wohl nicht gewesen sein, trotzdem drehte das Mädchen sich um und warf Matze einen Blick zu, der ungefähr besagte, dass er ein Vollidiot war.
"Was guckste so?" blaffte er sie an. Das Mädchen antwortete nicht, schüttelte nur den Kopf und setzte dann ihren Weg fort. Ihre schulterlangen blonden Haare flatterten im Wind. Matze fiel auf, wie hübsch ihre blaue Bluse unter den blonden Haaren aussah und überlegte, ob er sie schon einmal gesehen hatte, aber er konnte sie nicht einordnen. Allerdings wäre es bei der Vielzahl von Schülern, die die hiesige Realschule besuchten, auch eher unwahrscheinlich gewesen, direkt zu wissen, wen man vor sich hatte, wenn er nicht gerade in der gleichen oder der Parallelklasse war.
In diesem Moment packte ihn jemand an der Schulter.
"Mensch, Roter! Ich schrei mir hier die Kehle aus dem Hals und du hast wohl Watte in den Ohren!"
Es war Lars, ein Junge aus seiner Straße. Lars ging auf die Hauptschule und war ein Jahr jünger als Matze.
"Was gibt's?"
Lars holte tief Luft, sah ihn dann an wie jemand, der eine wichtige Mitteilung zu machen hatte und verkündete einfach nur: "Hugo."
"Was ist mit Hugo?"
"Er ist wieder da. Wir sollen nachher alle kommen, zum üblichen Treffpunkt. 5 Uhr."
Der "übliche Treffpunkt" war nichts weiter als ein kleines Mäuerchen, das in der Nähe des Friedhofs eingelassen war. Aber von der Seite des Friedhofs aus wuchsen einige Bäume schräg hinüber, sodass das Mäuerchen immer schön im Schatten lag und diejenigen, die sich darunter versammelt hatten, auf den ersten Blick nicht zu sehen waren. Manchmal saßen sie bei schönem Wetter einfach nur auf dem Mäuerchen, ließen die Beine baumeln und genossen das Nichtstun. Manchmal stießen sie mit einer Flasche Bier an, manchmal rauchten sie, fast immer schwang Hugo große Reden und alle hörten ihm andächtig zu. Und obwohl sein Vater es nicht müde wurde, ihn vor Hugo, dem "Taugenichts und Tagedieb" zu warnen, konnte Matze sich der eigenartigen Faszination, die Hugo auf ihn ausübte, nicht entziehen. Einige Male hatte er gedacht, er solle besser nach Hause gehen, um für die Schule zu lernen, statt seine Zeit mit Hugo und den anderen zu verbringen. Aber jedes Mal endete das Nachdenken darüber damit, dass er blieb, wo er war. Bei Hugo und den anderen. Bis Hugo genug von ihnen hatte und alle wegscheuchte.
"Ich weiß nicht, ob ich kommen kann."
"Du machst wohl Witze." Lars sah ihn ungläubig an. Hugo sagte man nicht einfach ab. Wenn Hugo wollte, dass man kam - warum auch immer - dann hatte man dieser Aufforderung Folge zu leisten. Und sonst gar nichts.
"Ich krieg garantiert Hausarrest. Hab ne Fünf in Englisch."
"Mist. Erzähl's doch einfach nicht."
"Geht nicht. Mein Alter soll unterschreiben."
"Wann hast du denn wieder Englisch?"
"Mittwoch."
Lars strahlte. "Mann, dann ist doch alles geritzt. Erzähl es ihm erst morgen." Er schlug Matze auf die Schulter. "Ist doch einfach, Roter. Also bis nachher!" Und schon war Lars verschwunden.
"Der hat gut reden", dachte Matze.
Aber seinen Vorschlag befolgte er doch: Heute war Montag. Und so hatte er noch einen Tag Galgenfrist, ehe er seinem Vater mit der verpatzten Englischarbeit unter die Augen treten musste.
Um 5 Uhr fand er sich pünktlich - wie alle anderen Anhänger Hugos - am üblichen Treffpunkt ein. Sie waren zu sechst: Lars, Thomas, Dieter, Frank, Karl-Heinz und er.
"Und wo ist Hugo?" Dieter sah Lars ungeduldig an. "Viel Zeit hab ich nämlich nicht, ich muss meinem Alten beim Hühnerschlachten helfen."
"Er kommt schon noch. Er holt noch seine Freundin ab."
Bei dem Wort "Freundin" brachen alle in lautes Gejohle aus. Einige schrille Pfiffe ertönen und Frank rief: "Hört, hört!"
"Ihr seid ja ganz schön neidisch", stellte Lars fest und sonnte sich im Gefühl, dass er als erster von Hugo ins Vertrauen gezogen worden war.
Und dann kam Hugo endlich, mit einem Mädchen im Schlepptau. Sie gingen nicht Hand in Hand. Es sah eher so aus, als müsse das Mädchen einen gebührenden Abstand halten. Als beide bei den Wartenden angekommen waren, sah Hugo sich mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck um.
"Leute, das ist Elke."
"Hallo", sagte Elke, mit einer recht piepsigen Stimme. Vor Aufregung? Oder redete sie immer so?
Matze hatte schon nach einem Blick auf das Mädchen festgestellt, dass es dasselbe Mädchen war, das er heute nach der Schule unabsichtlich mit dem Stein getroffen hatte. Er beschloss, nichts darüber zu sagen und betrachtete sie. Hübsch. Blonde lange Haare und blaue Augen. Schlank. Sie hatte ihn bestimmt erkannt, aber auch sie sagte nichts über den Vorfall. Überhaupt sagte sie nach der kurzen Vorstellung so gut wie gar nichts mehr.
Hugo bedeutete Elke mit einer Handbewegung, auf der Mauer Platz zu nehmen. Dann schwang er sich selbst neben sie und der Rest des Nachmittags verging damit, dass er wieder eine seiner Reden schwang und alle anderen zuhörten. Oder zumindest so taten. Matze dachte unablässig über Elke nach. Wo hatte Hugo sie getroffen? Wie kam ausgerechnet Hugo an ein solches Mädchen?
Nach einer Stunde hatte Hugo offenbar genug davon, sich wichtig zu machen und hob die Versammlung auf. Matze hatte nicht wirklich mitbekommen, worüber er überhaupt gesprochen hatte. Es war ihm auch egal.
Er ging heimwärts und seine Gedanken beschäftigten sich fast ausschließlich mit Elke. In einer Fensterscheibe erblickte er sein Spiegelbild: den flammendroten Haarschopf, der ihm den Spitznamen "Roter" eingebracht hatte, die nicht sehr große, aber kräftige, fast gedrungen wirkende Statur. Er wusste selbst nicht, warum er, während er auf sein Spiegelbild starrte, auf einmal daran dachte, ob es möglich wäre, Hugo im Zweikampf zu besiegen. Wahrscheinlich nicht. Hugo war zwei Jahre älter als er, etwas größer, zwar schlank, aber sicher genauso kräftig wie er.
Und er hatte auch nicht wirklich eine Idee, warum er auf einmal so unglaublich wütend auf Hugo war.